LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 08.01.2015 - L 8 SO 314/14 B ER - asyl.net: M22810
https://www.asyl.net/rsdb/M22810
Leitsatz:

1. Das Bestehen eines Aufenthaltsrechts ist keine notwendige Voraussetzung für das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (Anschluss an BSG Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R -, juris Rn. 19).

2. Bei Staatsangehörigen der Signatarstaaten des EFA, die sich erlaubt in Deutschland aufhalten, ist § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SGB XII nicht anwendbar, Die Vorschrift wird insoweit durch das Gleichbehandlungsgebot gemäß Art. 1 EFA verdrängt (Festhalten an der Senatsrechtsprechung; vgl. Beschluss vom 23. Mai 2014 - L 8 SO 129/14 B ER -, juris).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Aufenthaltstitel, Aufenthaltserlaubnis, gewöhnlicher Aufenthalt, EFA, Europäisches Fürsorgeabkommen, Gleichbehandlungsgebot, Diskriminierungsverbot, Unionsbürger, Sozialleistungen, SGB XII, freizügigkeitsberechtigt, Daueraufenthalt, Unterbrechung,
Normen: SGB XII § 41 Abs. 1 S. 1, SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1 1. Alt., SGB XII § 23 Abs. 3 S. 1, EFA Art. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antragsteller hat außerdem glaubhaft gemacht, dass er seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat (§ 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII).

Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand gemäß § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I - die Vorschrift ist auch im Rahmen des SGB XII anwendbar (§ 37 Satz 1 SGB I) - dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Generell muss am gewöhnlichen Aufenthaltsort der Schwerpunkt der persönlichen Lebensverhältnisse liegen (Blüggel in: jurisPK-SGB XII, 2. Auflage 2014, § 41 Rn. 107). Bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich, dass das Bestehen eines gewöhnlichen Aufenthalts keinen ständigen Aufenthalt erfordert und vorübergehende Abwesenheiten einem gewöhnlichen Aufenthalt nicht entgegenstehen (Schlegel in: jurisPK-SGB I, 2. Auflage 2011, § 30 Rn. 36). Eine längere Verweildauer am Aufenthaltsort gehört regelmäßig zu den Umständen, die den Schluss auf einen gewöhnlichen Aufenthalt rechtfertigen (Bundessozialgericht - BSG -, Urteil vom 16. Oktober 1986 - 12 RK 13/86, Rn. 11 - juris; Blüggel, a.a.O.). Da der gewöhnliche Aufenthalt keinen Wohnsitz (§ 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I) voraussetzt, können auch Wohnungslose einen gewöhnlichen Aufenthalt begründen (Thie in: LPK-SGB XII, 9. Auflage 2012, § 41 Rn. 10). Vorliegend hat sich der Antragsteller unter Zugrundelegung seiner Angaben im streitgegenständlichen Zeitraum, also seit Juli 2014, überwiegend in Hannover aufgehalten; dort hat - seinen Angaben zufolge - der Schwerpunkt seiner persönlichen Lebensverhältnisse gelegen. Seine Angaben stellen sich als glaubhaft dar, die von ihm behaupteten Tatsachen sind also überwiegend wahrscheinlich. Die von ihm abgegebenen eidesstattlichen Versicherungen, die generell zur Glaubhaftmachung geeignet sind (§ 202 Satz 1 SGG i.V.m. § 294 Abs. 1 ZPO), werden vor allem durch die Schreiben der ZBS Hannover vom 17./18. Juli 2014, 20. August 2014 und 26. September 2014 gestützt. Die Aufstellung vom 26. September 2014 dokumentiert regelmäßige Vorsprachen des Antragstellers in der Zeit von Mai 2013 bis September 2014, ohne dass Anlass besteht, an der Richtigkeit der Angaben der ZBS Hannover zu zweifeln. Lediglich für die Monate August bis November 2013 sowie für Januar 2014 sind keine Vorsprachen des Antragstellers dokumentiert.

Einem gewöhnlichen Aufenthalt des Antragstellers im Inland steht auch nicht das Fehlen eines Aufenthaltsrechts entgegen (vgl. zur Einfärbungslehre bei der Auslegung des § 30 Abs. 3 SGB I: Schlegel, a.a.O., Rn. 49 ff.). Nach summarischer Prüfung ist das Bestehen eines Aufenthaltsrechts keine notwendige Voraussetzung für das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts im Inland gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Das BSG hat zum Erfordernis des gewöhnlichen Aufenthalts gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II entschieden, dass das Innehaben einer bestimmten Freizügigkeitsberechtigung nach dem FreizügG/EU oder eines bestimmten Aufenthaltstitels nach dem AufenthG kein zusätzliches Anspruchsmerkmal darstellt, und dies maßgeblich mit der Regelungssystematik des SGB II begründet, das Leistungsausschlüsse für Ausländer in § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vorsieht (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 - B 4 AS 54/12 R, Rn. 19 - juris). Entsprechendes gilt für das SGB XII, das in § 23 SGB XII Regelungen über Sozialhilfe für Ausländer trifft.

Ohnehin hat der Antragsteller glaubhaft gemacht, dass er ein Daueraufenthaltsrecht hat. Ausgangspunkt sind hierbei die Angaben des Antragstellers über seine jahrzehntelange Erwerbstätigkeit in Deutschland, die dadurch gestützt werden, dass er eine Altersrente aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung bezieht. Im Hinblick auf diese Erwerbstätigkeit begegnet die Annahme des Antragstellers, dass er ein Daueraufenthaltsrecht erworben hat, keinen durchgreifenden Bedenken. Zum anderen kann nicht davon ausgegangen werden, dass er das Daueraufenthaltsrecht verloren hat. Insbesondere fehlen konkrete Anhaltspunkte dafür, dass nach dem Eintritt von Wohnungslosigkeit und dem Ende des Bezuges von Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII, also nach Oktober 2008, ein Verlust des Aufenthaltsrechts eingetreten ist. Maßstab für die Beurteilung dürfte hierbei unabhängig vom Zeitpunkt der Entstehung des Aufenthaltsrechts § 4a Abs. 7 FreizügG/EU sein, denn die Vorschrift dürfte auch auf Daueraufenthaltsrechte anwendbar sein, die vor ihrem Inkrafttreten am 28. August 2007 entstanden sind (Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Auflage 2013, § 4a FreizügG/EU Rn. 72). Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass er sich seit 2008 überwiegend in Hannover aufgehalten hat und seine Aufenthalte in Italien keinen ununterbrochenen Zeitraum von mehr als zwei Jahren umfasst haben. Auch insoweit stützt sich der Senat nicht nur auf die eidesstattlichen Versicherungen des Antragstellers, sondern auch auf die Schreiben der ZBS Hannover vom 17./18. Juli 2014, 20. August 2014 und 26. September 2014, in denen ein laufender Kontakt mit dem Antragsteller seit Dezember 2008 bestätigt worden ist. Eine Abwesenheit von weniger als zwei Jahren kann gemäß § 4a Abs. 7 FreizügG/EU nicht zum Verlust des Daueraufenthaltsrechts führen. Für das Bestehen eines Daueraufenthaltsrechts ist es unerheblich, dass der Antragsteller keine Bescheinigung hierüber (§ 5 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU) vorgelegt hat, da diese Bescheinigung nur deklaratorische Bedeutung hat (Renner/Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 5 FreizügG/EU Rn. 5, 40; vgl. BSG, Vorlagebeschluss vom 12. Dezember 2013 - B 4 AS 9/13 R, Rn. 13 - juris).

Der Antragsteller hat glaubhaft gemacht, dass ein Anspruch auf Sozialhilfe nicht gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 1 SGB XII - ein Ausschluss gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 SGB XII kommt ohnehin nicht in Betracht - ausgeschlossen ist. Die Vorschrift ist bei Staatsangehörigen der Signatarstaaten des EFA, die sich erlaubt in Deutschland aufhalten, nicht anwendbar, denn sie wird insoweit durch das Gleichbehandlungsgebot gemäß Art. 1 EFA verdrängt. Der Senat hat dies mit Beschluss vom 23. Mai 2014 (L 8 SO 129/14 B ER - juris) entschieden und hält an seiner Auffassung fest. [...]