VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 15.10.2014 - W 6 K 14.30224 - asyl.net: M22887
https://www.asyl.net/rsdb/M22887
Leitsatz:

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen Verfolgungsgefahr im Iran aufgrund exilpolitischer künstlerischer Aktivitäten in Deutschland.

Schlagwörter: Exilpolitik, bildende Künstler, Künstler, Karikaturen, Internet, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Iran, politische Verfolgung, Zensur,
Normen: AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

3. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in den Iran politische Verfolgung. [...]

Entscheidend für die Bejahung einer bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgungsgefahr sprechen die von dem Kläger an den Tag gelegten künstlerischen Aktivitäten in Deutschland, weil er damit in den Augen des iranischen Staates so genannte "rote Linien" überschritten hat (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 24.2.2014, S. 4).

4. Nach der Rechtsprechung ist maßgeblich für eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr darauf abzustellen, ob die im Asylverfahren geltend gemachten exilpolitischen Aktivitäten als untergeordnete Handlungen eingestuft werden, die dem Betreffenden nicht als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner in Erscheinung treten lassen, oder nicht. Die Gefahr politischer Verfolgung wegen exilpolitischer Aktivitäten ist anzunehmen, wenn ein iranischer Bürger bei seinen Aktivitäten besonders hervortritt und sein gesamtes Verhalten den iranischen Stellen als ernsthaften, auf die Verhältnisse im Iran hineinwirkenden Regimegegner erscheinen lässt (vgl. etwa BayVGH, B.v. 29.7.2013 – 14 ZB 13.30084 – juris; B.v. 25.1.2013 – 14 ZB 12.30326 – juris; B.v. 15.1.2013 – 14 ZB 12.30220 – juris; B.v. 7.12.2012 – 14 ZB 12.30385 – juris; sowie etwa VG Würzburg, U.v. 19.12.2012 – W 6 K 12.30171 – beck-online, BeckRS 2013, 45668; vgl. auch VG Regensburg, U.v. 30.4.2013 – RO 4 K 12.30373 – AuAS 2013, 153).

Die vorstehend allgemein skizzierte Verfolgungsgefahr besteht speziell für Künstler, gerade wenn sie sich nicht regimetreu verhalten und der Zensur unterwerfen, sondern wie hier vielmehr regimekritisch aktiv werden und sich dazu auch des Internets bedienen.

So betont das Auswärtige Amt schon in seinem Lagebericht (Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Iran, vom 11.2.2014, Stand: Oktober 2013) von einer neuen Einheit, die sich ausschließlich mit der Internet-Kriminalität befasst. Es beschreibt wie Aktivisten aufgrund von Facebook-Einträgen sowie Blogger, Homepage-Betreiber usw. zunehmend systematisch verfolgt werden. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf oppositionelle Web-Seiten. Dabei werden auch Oppositionelle im Ausland überwacht. Repressionen gelten insbesondere auch für Künstler.

Das Auswärtige Amt berichtet weiter konkret in seiner im vorliegenden Verfahren eingeholten Stellungnahme vom 24. Februar 2014, dass es seit 2009 verstärkt Hinweise auf eine gesteigerte Aufmerksamkeit der iranischen Sicherheitsbehörden bezüglich exilpolitischer Tätigkeiten gibt. Des Weiteren wird Cyber-Kriminalität verfolgt. Dabei wird nicht unterschieden, ob der Straftatbestand im Land oder außerhalb Irans erfüllt wird. Künstler unterliegen im Iran nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes staatlichen Repressionen, wenn ihre Tätigkeiten von Vorgaben des Regimes abweichen. Derartigen Abweichungen wird mit staatlichen Drohungen, Verhaftungen und Einschüchterungen begegnet. Die harte Vorgehensweise gegen Künstler hat sich in den letzten Jahren verschärft. Zahlreiche Beispiele belegen, dass Künstler einer strengen Zensur unterliegen und so genannte "rote Linien", deren Grenzen verwischt sind, existieren, die im Falle einer Zugriffsmöglichkeit in der Regel direkte staatliche Reaktionen zur Folge habe, falls sie überschritten werden. Auch dabei wird eine Unterscheidung zwischen Tätigkeiten im Iran und außerhalb Irans nicht erkennbar vorgenommen.

Repressionen und Übergriffe, insbesondere gegen Künstler und Kulturschaffende im Iran, werden des Weiteren durchweg im monatlichen Iran-Report der Heinrich-Böll-Stiftung dokumentiert (vgl. etwa Heinrich-Böll-Stiftung, Iran-Report 10/2014, S. 8, 9/2014, S. 10, 8/2014, S. 5 f., 6/2014, S. 9 f., 3/2014, S. 8 usw.). So reicht für eine Verfolgung schon aus, Witze über den Revolutionsführer Khomeini zu verbreiten. Künstler, Filmemacher und Journalisten werden immer wieder unter diversen Vorwänden in Haft genommen und auch zu Haftstrafen verurteilt.

5. Ausgehend von der der aktuellen Erkenntnislage begründen die vom Kläger geltend gemachten künstlerischen Aktivitäten unter Würdigung der Gesamtumstände seines Einzelfalles eine beachtliche Verfolgungsgefahr. Der Kläger hat sich nach Überzeugung des Gerichts in exponierter künstlerischer Weise regimekritisch engagiert, die ihn aus dem Kreis der standardmäßig exilpolitisch Aktiven heraushebt und dem iranischen Staat als ernsthaften Regimegegner erscheinen lässt, so dass wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresses seitens des iranischen Staates besteht (vgl. auch HessVGH, U.v. 21.9.2011 – 6 A 1005/10.A – EzAR-NF 63 Nr. 4).

Nach der eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 24. Februar 2014 ist davon auszugehen, dass der Kläger den Behörden im Iran schon aufgrund seiner früheren Tätigkeiten grundsätzlich bekannt ist. Aufgrund seiner gesamten künstlerischen Aktivitäten, insbesondere auch nach dem Verlassen Irans, vor allem aufgrund der Intensität und des Inhalts der konkreten Aktivitäten liegt auf der Hand, dass der Kläger erkennbar und identifizierbar in die Öffentlichkeit getreten ist, zumal er in den verschiedenen Medien wiederholt ausdrücklich abgebildet und namentlich erwähnt ist. Der Kläger hat mittlerweile diverse künstlerische Aktivitäten an den Tag gelegt, die alle weit verbreitet und veröffentlicht sind, angefangen von lokalen und regionalen Ausstellungen bis zu Berichten in überregionalen Medien, wie im Bayerischen Rundfunk und Fernsehen und auch im Exilsender Radio .... Seine kritischen Werke wie etwa seine regimekritischen Karikaturen sind weiter im Internet verbreitet. Er betreibt insofern eine blogspot sowie eine Seite bei google.plus. Im Einzelnen wird auf die von Klägerseite in verschiedenen Schriftsätzen vorgelegten Unterlagen (Zeitungsartikel, Interviews, Ausdrucke von verschiedenen Internet-Seiten, Unterlagen zu Ausstellungen in Würzburg, diverse Karikaturen sowie Postkarten, Fotos, Flyer usw.) Bezug genommen. Der Kläger hat auch glaubhaft von negativen Reaktionen auf seine regimekritischen Karikaturen berichtet, was zusätzlich für deren Weiterverbreitung im Internet spricht. Der Kläger ragt als Künstler erkennbar aus dem Kreis der sonst exilpolitisch Aktiven heraus.

Unter Berücksichtigung der Veröffentlichungen in den Medien, die den Namen des Klägers und auch seine ehemalige Tätigkeit als Illustrator eines Schulbuches zum Inhalt haben, schließt das Auswärtige Amt in der eigens eingeholten Auskunft vom 24. Februar 2014 nicht aus, dass entsprechende Rückschlüsse von den iranischen Behörden gezogen werden. Das Auswärtige Amt berichtet von einer harten Vorgehensweise gerade des Kultur- und auch des Geheimdienstministeriums. Danach unterliegen Künstler im Iran staatlichen Repressionen, wenn ihre Tätigkeiten – wie hier die Aktivitäten des Klägers – von den Vorgaben des Regimes abweichen. Derartigen Abweichungen werden mit staatlichen Drohungen, Verhaftungen und Einschüchterungen begegnet. Zahlreiche Beispiele belegen, dass Künstler einer strengen Zensur unterliegen und so genannte "rote Linien", deren Grenzen verwischt sind, existieren, die im Fall einer Zugriffsmöglichkeit in der Regel direkte staatliche Reaktionen zur Folge haben, falls sie überschritten werden.

Diese "rote Linien" hat der Kläger nach Überzeugung des Gerichts bei weitem überschritten. Dazu trägt schon bei, dass seine kritischen Karikaturen teilweise nicht nur allgemein regimekritischer Art sind, sondern sich speziell auch auf den Klerus und die Mullahs beziehen und sich insbesondere ausdrücklich gegen den jetzigen obersten religiösen Führer im Iran Ajatollah Khamenei sowie den früheren Revolutionsführer Ajatollah Khomeini richten. Nach einer Auskunft des Deutschen Orient-Instituts vom 19. Februar 2013 an das VG Würzburg begründet gerade eine direkte Kritik am Revolutionsführer Ajatollah Khomeini sowie am religiösen Führer Ajatollah Khamenei ein besonders Verfolgungsinteresse des iranischen Staates. Auch wenn das Vorgehen des iranischen Staates nicht einheitlich ist, macht eine derartige Kritik Repressionen wahrscheinlich, denn eine Kritik an Ajatollah Khamenei sowie an Ajatollah Khomeini wird gewissermaßen wie Kritik oder Verleumdung von Gott oder der Religion des Islam aufgefasst. Der aktuelle Iran-Report der Heinrich-Böll-Stiftung, Ausgabe 10/2014, S. 8, berichtet zudem, dass in jüngster Zeit allein Witze über Ajatollah Khomeini als strafbare Verstöße gegen islamische Sittsamkeit und Moral und gegen die nationale Sicherheit bezeichnet wurden. Die Verantwortlichen für die Verbreitung dieser Witze im Internet seien festgenommen worden. Hinzu kommt, dass der Kläger mittlerweile auch diverse Aktzeichnungen veröffentlicht hat, womit er angesichts der Moralvorstellungen im Iran offenkundig eine weitere "rote Linie" überschritten hat.

Nach alledem kann dem Kläger nicht zugemutet werden, in den Iran zurück zu kehren, weil er andernfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr politischer Verfolgung unterläge. Die Bejahung einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit in der Person des Klägers ist nach Überzeugung des Gerichts zweifelsfrei anzunehmen. Gerade aus der Zusammenschau und Intensität seiner künstlerischen regimekritischen Aktivitäten und dem Umstand, dass er im Iran schon bekannt ist und wiederholt "rote Linien" überschritten hat, führt im konkreten Einzelfall des Klägers dazu, die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Überzeugung des Gerichts gesamtwürdigend zu bejahen. [...]