BVerfG

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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 17.04.2015 - 2 BvR 602/15 - asyl.net: M22909
https://www.asyl.net/rsdb/M22909
Leitsatz:

Nach der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR muss bei der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern nach Italien vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der italienischen Behörden eingeholt werden, dass die Familie in Italien eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werden. Ob es im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes genügt, wenn das Bundesamt erklärt hat, dass es eine solche Zusicherung einholen und ohne diese eine Überstellung nicht veranlassen werde ist fraglich und führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung im Verfassungsbeschwerdeverfahren.

Schlagwörter: Verfassungsbeschwerde, Tarakhel, Italien, Dublinverfahren, Überstellung, Kinder, Kleinstkinder, Abschiebung, Überstellung
Normen: BVerfGG § 32 Abs. 1, GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Beschlüsse der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 17. September 2014 - 2 BvR 939/14 - , NVwZ 2014, S. 1511, 2 BvR 732/14 und 2 BvR 1795/14, jeweils juris sowie 2 BvR 991/14) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR <GK>, Tarakhel v. Schweiz, Urteil vom 4. November 2014, Nr. 29217/12, NVwZ 2015, S. 127) muss bei der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern nach Italien vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der italienischen Behörden eingeholt werden, dass die Familie in Italien eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde. Dem angegriffenen Beschluss zufolge genügt es, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erklärt hat, dass es eine solche Zusicherung einzuholen und ohne diese eine Überstellung nicht veranlassen werde. Das Rechtsschutzbegehren könne auch ohne Überprüfung der im Einzelfall vorgelegten Zusicherung allein im Hinblick auf eine derartige vom Bundesamt abgegebene Erklärung zurückgewiesen werden.

Die Beschwerdeführer tragen demgegenüber vor, Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit sei es, in jedem konkreten Einzelfall die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns z überprüfen. Dazu gehöre auch die Prüfung, ob die auf den zur Entscheidung stehenden Einzelfall bezogene Zusicherung der italienischen Behörden den Anforderungen der Rechtsprechung an eine derartige Zusicherung genüge. Insbesondere reiche es nicht aus, wenn eine Behörde pauschal behaupte, sich nach Recht und Gesetz verhalten zu wollen.

Dies bedarf näherer Überprüfung; der Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens erweist sich damit jedenfalls als offen.

3. Die danach gebotene Abwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung. Den Beschwerdeführern droht durch den Vollzug der Abschiebung ein schwerer und nicht ohne weiteres wiedergutzumachender Nachteil. Demgegenüber wiegen etwaige Nachteile, die durch den auf überschaubare zeit verlängerten Aufenthalt der Beschwerdeführer in Deutschland entstehen, weniger schwer. [...]