OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 06.05.2015 - 12 N 64.14 - asyl.net: M22915
https://www.asyl.net/rsdb/M22915
Leitsatz:

Wird über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen im Verbund entschieden, ist das Vorverfahren gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. VwGO i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 AGVwGO Bln ausgeschlossen (Fortsetzung der Rspr. aus dem Senatsbeschluss vom 25. Juni 2014 - OVG 12 N 22.14 - juris).

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausweisung, Befristung, Wirkung der Ausweisung, Vorverfahren, Ermessen, Verhältnismäßigkeit, Straftat, Wiederholungsgefahr, Haftentlassung, Strafhaft, Integration, Härtefall, faktischer Inländer, Jugendstrafe, Prognose, gebundene Entscheidung, gerichtliche Überprüfung, Rechtsschutzverkürzung,
Normen: VwGO § 68 Abs. 1 S. 2, VwGO § 68 Abs. 1 S. 2 1. Alt., AGVwGO Bln § 4 Abs. 2 S. 2, VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 54 Nr. 1, AufenthG § 54 Nr. 1 1. Alt., AufenthG § 54, EMRK Art. 8, VwGO § 114 S. 1, GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1, AufenthG § 25 Abs. 5 S. 1, VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 5, AufenthG § 25 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

1. Soweit der Kläger zur Begründung ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der gegen ihn verfügten Ausweisung vorträgt, das Verwaltungsgericht habe den Prüfungsmaßstab verkannt, weil es keinen Ausnahmefall von der Regelausweisung nach § 54 Nr. 1 1. Alt. AufenthG angenommen habe, vermag das den Zulassungsgrund nicht auszufüllen, weil schon die Behörde in dem angefochtenen Bescheid vom 20. Dezember 2013 mit Blick auf die Vereinbarkeit der Ausweisung mit Art. 8 EMRK eine Ermessensentscheidung getroffen hat und das Verwaltungsgerichts darauf auch eingegangen ist (Urteilsabdruck S. 8). Davon abgesehen verfehlt es im Ansatz den Rechtsschutz gegenüber Ermessensentscheidungen, wenn deren vollumfängliche gerichtliche Überprüfung postuliert wird (Begründungsschrift S. 4). Eine Ermessensentscheidung ist nach § 114 Satz 1 VwGO darauf zu überprüfen, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. In diesem Rahmen stellt das Zulassungsvorbringen lediglich in den Raum, das Verwaltungsgericht habe sich mit bestimmten Tatsachen nicht ausreichend auseinandergesetzt, eine Wiederholungsgefahr zu Unrecht bejaht und die Ausweisung fehlerhaft als verhältnismäßig angesehen, ohne dies schlüssig herzuleiten.

So vermischt es die Natur und Schwere der vom Kläger begangenen Straftaten mit dem Verhalten des Klägers im Zeitraum zwischen der Begehung der Delikte und der Ausweisung, wenn es einerseits auf die letzte abgeurteilte Tat der gefährlichen Körperverletzung als – im Verhältnis zu den vorausgegangenen Eigentumsdelikten – singuläre Straftat mit gruppendynamischem Hintergrund eingeht und sogleich auf die Tataufarbeitung und das Verhalten im Jugendstrafvollzug sowie die geleisteten Entschädigungszahlungen an das eine Tatopfer und die Betroffenheit des Klägers durch den Selbstmord seiner Schwester abhebt.

Neben dieser Verquickung verschiedener für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs wesentlicher Gesichtspunkte setzt sich das Vorbringen auch mit den Ausführungen im Urteil nicht auseinander und stellt diese nicht ergebnisrelevant in Frage.

Denn das Verwaltungsgericht hat für die Bejahung der Wiederholungsgefahr aus spezialpräventiven Gründen sowohl die Delinquenz des Klägers gesehen und untersucht als auch eine Einordnung in den sonstigen Lebenslauf vorgenommen. Es hat insoweit festgestellt, dass der Kläger schon seit seinem 15. Lebensjahr durch die Begehung von Straftaten aufgefallen und nicht erst nach dem Schicksalsschlag des Todes seiner Schwester erheblich strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Aus den strafrechtlichen Verurteilungen, die das Verwaltungsgericht im Tatbestand des Urteils erwähnt hat, ergibt sich im Übrigen, dass der Kläger auch schon vor der letzten Tat Straftaten gemeinschaftlich mit anderen begangen hat. Dabei hat er auch die Anführerrolle übernommen – so etwa beim Diebstahl von 79 Schachteln Zigaretten in einem Markt der Fa. Real am 20. November 2009 im Wert von 382,55 Euro –, seine Taten mit Gewalt gegen Personen verbunden – wie bei der Nötigung des Zeugen Y. zur Herausgabe seines Mobiltelefons am 1. März 2010 – und bei der letzten Tat, die unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilungen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten führte, als erster der Täter einen Schlaggegenstand ergriffen und eingesetzt, indem er den Zeugen Z. mit einer Holzlatte gegen den Kopf schlug. Schädliche Neigungen waren bei dem Kläger schon vor der letzten abgeurteilten Tat festgestellt worden und er war bereits zu einer Jugendstrafe ohne Bewährung verurteilt worden.

Auf diese Feststellungen geht das Zulassungsvorbringen nicht näher ein, so dass seine rechtlichen Bewertungen auf einer einseitigen und unvollständigen tatsächlichen Grundlage beruhen. Insbesondere vermag es damit die prognostische Einschätzung der Wiederholungsgefahr nicht in Frage zu stellen, die das Verwaltungsgericht auf der Grundlage der letzten Vollzugsplanfortschreibung vom 30. April 2014 zu Lasten des Klägers vorgenommen hat. In nicht zu beanstandender Weise hat es dabei darauf verwiesen, dass angesichts des seit dem 15. Lebensjahr bestehenden, verfestigten kriminellen Verhaltens des Klägers eindeutige und langfristige Umstände vorliegen müssen, die auf eine dauerhafte Verhaltensänderung und eine Beseitigung der Ursachen für sein strafbares Verhalten schließen ließen, wofür Ansätze für eine Besserung nicht genügten, sondern eine Bewährung außerhalb der Haftanstalt für eine geraume Zeit notwendig sei. Da der Senat nur die bis zum Ablauf der Begründungsfrist für den Zulassungsantrag erkennbar werdenden Umstände berücksichtigen kann, reicht insoweit der Vortrag der vorzeitigen Haftentlassung des Klägers zum 1. August 2014 nur kurz vor der vollständigen Verbüßung der Strafe und die Wohnungsnahme bei seinen Eltern sowie die behauptete Teilnahme an dem Projekt zur Erlangung des Schulabschlusses der KHS Kirchhofschmiede seit 17. Juli 2014 nicht aus, um eine andere Beurteilung zu rechtfertigen.

Das gilt im Ergebnis auch für den weiteren Prüfungspunkt der Verbundenheit mit dem Gaststaat und der Bindungen zum Herkunftsstaat. Das Vorbringen des Klägers geht nicht darauf ein, dass es schon gegenwärtig an einem Aufenthaltstitel fehlt. Der Kläger wurde nach erfolglosem Asylverfahren zunächst geduldet und hat erst im Jahre 2005 eine Härtefall-Aufenthaltserlaubnis nach § 23a AufenthG erhalten. Deren Verlängerung ist zwar fristgerecht vor Ablauf der letzten Befristung des Aufenthaltstitels im Jahre 2010 beantragt worden, aber nicht verlängert worden. Die Annahme eines Härtefalls ist in der Regel auch ausgeschlossen, wenn Straftaten von erheblichem Gewicht begangen worden sind (§ 23 a Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Das Verwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Urteil deutlich gemacht, dass der Kläger zwar seit 1996 mit seiner Familie im Bundesgebiet lebt, sich während seines Aufenthalts aber nicht integriert habe, da er keinen Schul- oder Ausbildungsabschluss erlangt, jahrelang Sozialleistungen bezogen und seit dem 15. Lebensjahr Straftaten begangen habe. Dies wird mit dem Zulassungsvorbringen zwar nicht in Abrede gestellt, sondern es stellt auf äußere Ursachen für das Schulversagen und aktuelle Entwicklungen und Pläne des Klägers ab, zunächst den Hauptschulabschluss nachzuholen und eine Ausbildung zu machen; zudem wird das gute Verhältnis zu seinen Eltern hervorgehoben. Das reicht unter Berücksichtigung der vom Kläger nicht angegriffenen Feststellungen des Urteils nicht aus, um ihn trotz seines langen Aufenthalts im Bundesgebiet als faktischen Inländer anzusehen, für den die Folgen einer Ausweisung unzumutbar sind und die Maßnahme daher unverhältnismäßig ist.

Fehlt es danach an einer schlüssigen Darlegung, dass sich der Kläger aussichtsreich auf einen unverhältnismäßigen Eingriff in seine Rechte aus Art. 2 Abs. 1, 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 8 EMRK berufen kann, ist auch ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG nicht dargelegt.

Das angefochtene Urteil weist auch nicht deshalb einen zur Zulassung führenden Mangel auf, weil das Verwaltungsgericht nicht – wie im Regelfall erforderlich – die Strafakten beigezogen hat. Denn der Fall weist die Besonderheit auf, dass es sich sämtlich um jugendgerichtliche Verurteilungen handelt, die auf die persönliche Entwicklung und Reife des Klägers sowie das Vorliegen schädlicher Neigungen in besonderer Weise eingehen, der Kläger stets geständig war und die schließlich von der Jugendkammer des Landgerichts mit Urteil vom 15. März 2013 verhängte, den Ausweisungsanlass bildende Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten unter Einbeziehung der vorausgegangenen Verurteilungen durch das Jugendschöffengericht vom 17. Juni 2010, 12. März 2012 und vom 19. Dezember 2012 ausgesprochen wurde, so dass Werdegang und die wesentlichen Straftaten des Klägers aus dem Urteil ersichtlich werden, obwohl es sich um ein Urteil mit gemäß § 267 Abs. 4 StPO abgekürzten Gründen handelt. Mit dem Zulassungsvorbringen wird – ungeachtet der Frage, inwieweit solcher Vortrag nach der Anordnung des Verwaltungsgerichts gemäß § 87 b VwGO vom 2. Mai 2014 noch in das Verfahren eingebracht werden kann – nicht dargelegt, was sich aus den Strafakten über diese Erkenntnisse hinaus für die Prognose Wesentliches ergeben hätte. Mit der Rüge, der Kläger sei im Strafverfahren nicht begutachtet worden, kann jedenfalls nicht dargetan werden, dass sich aus den Strafakten insoweit weitere Erkenntnisse ergeben. Die ausführlichen Stellungnahmen der Haftanstalt lagen dem Verwaltungsgericht im Übrigen vor.

2. Der im Hinblick auf die Einbeziehung der Befristungsentscheidung in das Verfahren geltend gemachte Zulassungsgrund eines Verfahrensmangels nach § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt nicht vor. Der Kläger macht insoweit geltend, dass sich die zunächst mit dem Ausweisungsbescheid getroffene bedingte Befristungsentscheidung noch im Stadium des Vorverfahrens befunden habe und er nicht damit habe rechnen müssen, dass über die in der mündlichen Verhandlung unter Aufhebung der früheren Bedingungen aufrechterhaltene Befristungsentscheidung sogleich und unter Umgehung des Vorverfahrens entschieden werde.

Dem folgt der Senat nicht. Nach der Änderung des Bescheides vom 20. November 2013 durch die Aufhebung der – unzulässigen – Bedingungen für die Befristung der Wirkungen der Ausweisung "auf Antrag" und "nach Zahlung der Bearbeitungsgebühr" durch war das Verwaltungsgericht auf den vom Kläger gestellten Anfechtungsantrag zur vollständigen Ausschöpfung des Streitgegenstandes gehalten, auch über die Befristung zu entscheiden. Entgegen der Ansicht des Klägers – allerdings auch entgegen der im Bescheid des Beklagten enthaltenen Rechtsbehelfsbelehrung – findet ein Vorverfahren nicht statt, wenn über die Ausweisung und die Befristung ihrer Wirkungen – wie regelmäßig und auch hier – im Verbund entschieden wird, denn das Vorverfahren ist insoweit gemäß § 68 Abs. 1 Satz 2 1. Alt. VwGO i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 2 AGVwGO Bln ausgeschlossen (vgl. bereits Senatsbeschluss vom 25. Juni 2014 – OVG 12 N 22.14 – juris). Zwar ist die Entscheidung über die Befristung der Wirkungen der Ausweisung als solche von der Ausweisungsentscheidung zu unterscheiden und mit dieser grundsätzlich nur insoweit verknüpft, als die Aufhebung der Ausweisungsentscheidung auf die Anfechtungsklage auch der Befristung die Grundlage entzieht. Dennoch kann eine Ausweisung nach geltender Rechtslage nicht verfügt werden, ohne dass zugleich über die Befristung ihrer Wirkungen entschieden wird (BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 – 1 C 19.11 -, BVerwGE 143, 277, juris Rn. 30 ff.). Damit besteht zwischen beiden Entscheidungen ein verfahrensrechtlicher Verbund. Deshalb kann für die Befristungsentscheidung das Vorverfahrenserfordernis nicht anders beurteilt werden als für die Ausweisung. Hat der Landesgesetzgeber für die Ausweisung angeordnet, dass das Vorverfahren entfällt, muss dies auch für die daran anknüpfende akzessorische Befristungsentscheidung gelten. Offen kann bleiben, wie dies für nicht im Verbund getroffene, sich auf einen späteren Zeitpunkt beziehende Änderungen der Befristungsentscheidung zu sehen ist. Für den auch hier vorliegenden Fall einer im Zusammenhang mit der Ausweisung getroffenen Entscheidung entspricht es Sinn und Zweck des gesetzlich angeordneten Wegfalls des Widerspruchsverfahrens, dort wo die Überprüfung im Vorverfahren regelmäßig keine erhebliche Filter- und Entlastungswirkung für das gerichtliche Verfahren besitzt, sogleich die gerichtliche Prüfung zu eröffnen und damit das Verfahren zu straffen. Für den Betroffenen tritt damit entgegen der Auffassung des Klägers keine Rechtsschutzverkürzung ein. Denn bei der Befristung handelt es sich um eine gebundene Entscheidung, die der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt und für die auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen ist, so dass neues Vorbringen, insbesondere eine für den Betroffenen im Hinblick auf die Befristung der Wirkungen der Ausweisung günstige Entwicklung, bis zum Zeitpunkt des Schlusses der letzten Tatsacheninstanz zu berücksichtigen ist. Darüber hinaus ist anerkannt, dass zugunsten des Betroffenen veränderte Umstände auch noch nach rechts- oder bestandskräftiger Befristungsentscheidung mit einem neuen Antrag geltend gemacht werden können (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 – 1 C 20.11 – juris Rn. 43), so dass ohnehin nicht zu befürchten ist, dass eine für den Betroffenen günstige Entwicklung bei der Befristung der Wirkungen der Ausweisung unberücksichtigt bleibt. Hierauf hat schon das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen (S. 5 4. Absatz des Urteilsabdrucks).

Aus diesen Gründen bestehen insoweit auch keine Zweifel an der Richtigkeit des Urteils.

Hiervon ausgehend durfte das Verwaltungsgericht den Antrag auf eine Erklärungsfrist zu der Änderung der Befristungsentscheidung durch Wegfall der zunächst verfügten Bedingungen ohne Verletzung des rechtlichen Gehörs ablehnen und sogleich zur Sache entscheiden. Bei dem Wegfall der Bedingungen der Befristung handelte es sich um keine Änderung der Prozesslage, die dem Kläger seine Rechtsverteidigung erschwerte, insbesondere ist nicht ersichtlich, was den anwaltlich vertretenen Kläger gehindert haben sollte, seine Einwände gegen die Dauer der Befristung in der mündlichen Verhandlung unter Berücksichtigung des insoweit für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkts vorzubringen. Neues Vorbringen – auch darauf hat das Verwaltungsgericht im Urteil zutreffend hingewiesen – hatte der Beklagte mit der Aufhebung der Bedingungen in der mündlichen Verhandlung nicht in das Verfahren eingebracht. [...]