EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 04.06.2015 - C?579/13 (ASYLMAGAZIN 7-8/2015, S. 259 ff.) - asyl.net: M22950
https://www.asyl.net/rsdb/M22950
Leitsatz:

Die Daueraufenthaltsrichtlinie (Richtlinie 2003/109/EG) und insbesondere deren Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 1 stehen einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens, die Drittstaatsangehörigen, die bereits im Besitz der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sind, die bußgeldbewehrte Pflicht zur erfolgreichen Ablegung einer Integrationsprüfung auferlegt, nicht entgegen, sofern die Modalitäten für deren Umsetzung nicht so gestaltet sind, dass sie die Verwirklichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele gefährden. Dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts. Ob die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten vor oder nach Auferlegung der Pflicht zur erfolgreichen Ablegung einer Integrationsprüfung erlangt wurde, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang.

Schlagwörter: Vorabentscheidungsverfahren, Daueraufenthaltsrichtlinie, Daueraufenthaltsberechtigte, langfristig aufenthaltsberechtigt, langfristig Aufenthaltsberechtigte, Integration, Integrationsanforderungen, Bußgeld, Geldbuße, Integrationspflicht, Integrationsprüfung, Integrationsmaßnahme, Drittstaatsangehörige,
Normen: RL 2003/109/EG Art. 5 Abs. 2, RL 2003/109/EG Art. 11 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2003/109 und insbesondere deren Art. 5 Abs. 2 und Art. 11 Abs. 1 einer nationalen Regelung wie der des Ausgangsverfahrens entgegenstehen, die Drittstaatsangehörigen, die bereits im Besitz der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten sind, die bußgeldbewehrte Pflicht zur erfolgreichen Ablegung einer Integrationsprüfung auferlegt, und ob der Umstand, dass diese Rechtsstellung vor oder nach der Auferlegung dieser Pflicht erlangt wurde, in diesem Zusammenhang von Belang ist.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Fragen des vorlegenden Gerichts ausschließlich die Drittstaatsangehörigen betreffen, die sich – wie P und S – zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Wi, nämlich dem 1. Januar 2007, rechtmäßig in den Niederlanden aufhielten und die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 1. Januar 2010 beantragt haben.

Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Integrationspflicht, die in der erfolgreichen Ablegung einer Prüfung zum Nachweis des Erwerbs mündlicher und schriftlicher Kenntnisse der niederländischen Sprache und von hinreichenden Kenntnissen der niederländischen Gesellschaft besteht, ist für diese Kategorie von Staatsangehörigen keine Voraussetzung für die Erlangung oder Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten, sondern zieht lediglich die Verhängung einer Geldbuße gegenüber denjenigen nach sich, die bei Ablauf der festgesetzten Frist diese Prüfung nicht erfolgreich abgelegt haben.

Außerdem ist auf die Bedeutung hinzuweisen, die der Unionsgesetzgeber Integrationsmaßnahmen beimisst, wie sich insbesondere aus dem vierten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/109 ergibt, der vorsieht, dass die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind, entscheidend zur Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts beiträgt, der als eines der Hauptziele der Union im Vertrag angegeben ist.

Die Fragen des vorlegenden Gerichts sind im Licht dieser Erwägungen zu beantworten.

Was erstens Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 unter der Überschrift "Bedingungen für die Zuerkennung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten" angeht, so sieht diese Bestimmung vor, dass die Mitgliedstaaten von Drittstaatsangehörigen verlangen können, dass sie die Integrationsanforderungen gemäß dem nationalen Recht erfüllen.

Somit ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut dieser Bestimmung als auch aus ihrem Kontext, dass sie den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, die Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten der vorherigen Erfüllung bestimmter Integrationsanforderungen zu unterwerfen.

Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 betrifft daher die Integrationsanforderungen, deren Erfüllung vor Gewährung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten gefordert werden kann.

Wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, stellt die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Integrationspflicht jedoch weder für die Erlangung noch für die Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten durch die Drittstaatsangehörigen, die diese Rechtsstellung im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 1. Januar 2010 beantragt haben, eine Bedingung dar. Daher kann diese Pflicht hinsichtlich dieser Kategorie von Staatsangehörigen nicht als Integrationsanforderung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 eingestuft werden.

Da Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2003/109 es den Mitgliedstaaten weder gebietet noch untersagt, von Drittstaatsangehörigen nach Erlangung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten die Erfüllung von Integrationspflichten zu verlangen, steht diese Vorschrift einer Integrationsmaßnahme wie der des Ausgangsverfahrens somit nicht entgegen.

Was Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 angeht, so ist darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung, wie im zwölften Erwägungsgrund dieser Richtlinie ausgeführt ist, Drittstaatsangehörigen, die die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten erlangt haben, garantiert, dass sie auf den in den Buchst. a bis h dieser Bestimmung genannten Gebieten wie Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats behandelt werden.

Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Integrationspflicht den eigenen Staatsangehörigen nicht auferlegt wird, ist zu prüfen, ob eine solche Pflicht möglicherweise gegen den in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 verankerten Grundsatz der Gleichbehandlung auf den verschiedenen von ihm genannten Gebieten verstößt.

Im Hinblick hierauf ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung der Grundsatz der Gleichbehandlung verlangt, dass gleiche Sachverhalte nicht unterschiedlich und unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden, sofern eine solche Behandlung nicht objektiv gerechtfertigt ist (Urteil S.P.C.M. u. a., C-558/07, EU:C:2009:430, Rn. 74 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass die streitgegenständlichen Integrationsmaßnahmen im Wesentlichen in der Pflicht zum Erwerb und/oder zum Nachweis mündlicher und schriftlicher Kenntnisse der niederländischen Sprache und von Kenntnissen der niederländischen Gesellschaft bestehen. Während davon ausgegangen werden kann, dass eigene Staatsangehörige über diese Kenntnisse verfügen, ist dies jedoch bei Drittstaatsangehörigen nicht der Fall. Daher ist, wie der Generalanwalt in Nr. 52 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, davon auszugehen, dass die Situation der Drittstaatsangehörigen mit der der Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats hinsichtlich der Zweckmäßigkeit von Integrationsmaßnahmen wie dem Erwerb von Kenntnissen der Sprache und der Gesellschaft dieses Staates nicht vergleichbar ist.

Der Umstand, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Integrationspflicht den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats nicht auferlegt ist, verstößt daher mangels Vergleichbarkeit der Situationen nicht gegen das Recht der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109.

Jedoch dürfen die Modalitäten zur Durchführung dieser Integrationspflicht den Grundsatz der Nichtdiskriminierung auf den in Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109 genannten Gebieten nicht beeinträchtigen.

In jedem Fall ist hinzuzufügen, dass die Mitgliedstaaten keine nationale Regelung anwenden dürfen, die die Verwirklichung der mit dieser Richtlinie verfolgten Ziele gefährden und dieser damit ihre praktische Wirksamkeit nehmen könnte (vgl. Urteil Kommission/Niederlande, C-508/10, EU:C:2012:243, Rn. 65).

Wie aus den Erwägungsgründen 4, 6 und 12 der Richtlinie 2003/109 hervorgeht, ist deren vorrangiges Ziel die Integration von Drittstaatsangehörigen, die in den Mitgliedstaaten langfristig ansässig sind (vgl. Urteil Kommission/Niederlande, C-508/10, EU:C:2012:243, Rn. 66).

Daher kann zunächst hinsichtlich der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Pflicht zur erfolgreichen Ablegung der Integrationsprüfung nicht bestritten werden, dass der Erwerb von Kenntnissen sowohl der Sprache als auch der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaats die Verständigung zwischen den Drittstaatsangehörigen und den Staatsangehörigen des betreffenden Mitgliedstaats deutlich erleichtert und darüber hinaus die Interaktion und die Entwicklung sozialer Beziehungen zwischen ihnen begünstigt. Auch kann nicht bestritten werden, dass der Erwerb von Kenntnissen der Sprache des Aufnahmemitgliedstaats den Zugang der Drittstaatsangehörigen zu Arbeitsmarkt und Berufsausbildung erleichtert.

Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass die Pflicht zur erfolgreichen Ablegung einer Prüfung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden für sich genommen die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2003/109 verfolgten Ziele nicht gefährdet, sondern vielmehr hierzu beitragen kann, weil sie geeignet ist, zu gewährleisten, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen Kenntnisse erwerben, die unstreitig für die Schaffung von Bindungen zum Aufnahmemitgliedstaat von Nutzen sind.

Allerdings dürfen die Modalitäten zur Umsetzung dieser Pflicht auch unter Berücksichtigung insbesondere des für die erfolgreiche Ablegung der Integrationsprüfung geforderten Kenntnisstands, der Zugänglichkeit der Kurse und des zur Prüfungsvorbereitung erforderlichen Materials, der Höhe der für Drittstaatsangehörige geltenden Einschreibungsgebühren für die Prüfungsteilnahme oder der Beachtung besonderer individueller Umstände, wie Alter, Analphabetismus oder Bildungsniveau, nicht so gestaltet sein, dass sie diese Ziele gefährden.

Sodann ist hinsichtlich des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Bußgeldsystems darauf hinzuweisen, dass die Verhängung einer Geldbuße gegen langfristig aufenthaltsberechtigte Drittstaatsangehörige, die nach Ablauf der festgesetzten Frist die Integrationsprüfung nicht erfolgreich abgelegt haben, als Mittel zur Gewährleistung der Wirksamkeit ihrer Integrationspflicht für sich genommen die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2003/109 verfolgten Ziele nicht gefährdet und daher dieser nicht ihre praktische Wirksamkeit nimmt.

Allerdings ist der Umstand zu berücksichtigen, dass der Höchstbetrag der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Geldbuße ein relativ hohes Niveau, nämlich 1 000 Euro, erreicht und dass sie außerdem bei jedem erfolglosen Ablauf der für das erfolgreiche Ablegen der Integrationsprüfung gesetzten Frist verhängt werden kann, und zwar ohne Begrenzung, bis der betreffende Drittstaatsangehörige diese Prüfung erfolgreich abgelegt hat.

Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Geldbuße gegen Drittstaatsangehörige, die bei Ablauf der ihnen gesetzten Frist die Integrationsprüfung nicht erfolgreich abgelegt haben, unabhängig davon verhängt wird, ob sie während dieser Frist niemals oder wiederholt an dieser Prüfung teilgenommen haben.

Im Übrigen haben die betreffenden Drittstaatsangehörigen die Kosten für die Einschreibungsgebühren für die Teilnahme an der Integrationsprüfung sowie eventuell für die Prüfungsvorbereitung zu tragen. Es ist des Weiteren darauf hinzuweisen, dass die niederländische Regierung in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, dass die Höhe der Einschreibungsgebühren 230 Euro beträgt, dass die betreffenden Drittstaatsangehörigen diese Gebühren bei jeder Teilnahme an der Integrationsprüfung während der gesetzten Frist entrichten müssen und dass sie den Betroffenen bei Nichtbestehen der Prüfung nicht zurückerstattet werden. Hieraus ergibt sich daher, dass die Verhängung einer Geldbuße nicht die einzige negative Auswirkung für die Drittstaatsangehörigen ist, denen es nicht gelingt, diese Prüfung vor Ablauf der gesetzten Frist erfolgreich abzulegen.

Unter solchen – vom vorlegenden Gericht zu prüfenden – Umständen ist die Zahlung einer Geldbuße zur Ahndung der nichterfüllten Pflicht zur erfolgreichen Ablegung der Integrationsprüfung zusätzlich zur Zahlung der Gebühren für die wahrgenommenen Prüfungstermine die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2003/109 verfolgten Ziele gefährden und daher dieser ihre praktische Wirksamkeit nehmen.

Schließlich ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Integrationspflicht nach der nationalen Regelung – wie in Rn. 31 des vorliegenden Urteils festgestellt worden ist – keine Auswirkung auf den Erhalt und die Aufrechterhaltung der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten der Drittstaatsangehörigen hat, die diese Rechtsstellung im Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2007 und dem 1. Januar 2010 beantragt haben, und es daher im vorliegenden Fall für die Antwort an das vorlegende Gericht ohne Belang ist, ob die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten vor oder nach Auferlegung dieser Pflicht erlangt wurde. [...]