VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 06.05.2015 - 5 K 2100/14 - asyl.net: M22955
https://www.asyl.net/rsdb/M22955
Leitsatz:

Gefährdung eines paschtunischen Volkszugehörigen in der afghanischen Provinz Paktika durch die Taliban.

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Paktika, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3c Nr. 3,
Auszüge:

[...]

In Anwendung dieser Maßstäbe hat der Kläger mit seinem Vorbringen im Gerichtsverfahren ein individuelles Schicksal, das seine Verfolgungsgefährdung belegt, glaubhaft gemacht. Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO davon überzeugt, dass der Vortrag des Klägers der Wahrheit entspricht und er von den Taliban mit dem Leben bedroht wurde und wird.

Das Bundesamt hat das Vorbringen des Klägers nicht geglaubt: Sein Sachvortrag sei insgesamt pauschal, lebensfremd und oberflächlich geblieben und weise in wesentlichen Punkten erhebliche Ungereimtheiten auf. So sei bereits kaum vorstellbar, dass ihm zweimal ohne weiteres die Flucht aus dem Gewahrsam der Taliban gelungen sein solle, wo er gleichzeitig angegeben habe, dass diese ein derartiges Interesse an seiner Person hätten, dass er jederzeit zu befürchten habe, erneut mitgenommen zu werden. Aus welchem Grund die Taliban gerade an ihm ein derartiges Interesse haben sollten, sei aus seinem Vorbringen nicht ersichtlich. Der Umstand, dass er sich nach seiner Rückkehr aus Griechenland etwa einen Monat lang vollkommen unbehelligt in seinem Elternhaus aufgehalten habe, unterstreiche, dass ein Interesse der Taliban an seiner Person nicht bestanden habe, zumal er angegeben habe, dass diesen sein Wohnort bekannt gewesen sei. Es sei auch nicht plausibel, aus welchem Grund der Kläger in der von ihm geschilderten Situation nach seinem Aufenthalt in Griechenland überhaupt wieder in seinen Heimatort zurückgekehrt sein sollte, um sich so der erneuten Gefahr auszusetzen, von den Taliban mitgenommen zu werden.

Dieser Argumentation ist der Kläger entgegengetreten: Sein Vorbringen sei weder pauschal noch lebensfremd noch oberflächlich, sondern glaubhaft. Die behaupteten Ungereimtheiten existierten nicht. Ihm sei in der Tat zweimal die Flucht aus dem Gewahrsam der Taliban gelungen. Dabei sei er von zwei verschiedenen Gruppierungen der Organisation entführt worden, beim ersten Mal von einer Gruppe unter dem Kommando eines Ahmad Shah, beim zweiten Mal von einer Gruppe unter dem Befehl eines Cankar Hakani. Bei der ersten Entführung sei ihm die Flucht gelungen, nachdem er abends - wie üblich - für die Angehörigen der Taliban aus einem etwa einen Kilometer vom Aufenthaltsort entfernten Wasserloch Wasser habe holen müssen. Normalerweise sei das Wasser von zwei Personen herbeigeschafft worden. An jenem Abend habe er es allein holen müssen. Diese Situation habe er ausgenutzt und sei geflohen. Er sei durch einen Wald und die ganze Nacht hindurch gelaufen, bis er an eine Straße gelangt sei, von wo aus er als Anhalter in das heimische Dorf mitgefahren sei. Dort habe er, um nicht entdeckt zu werden, allerdings nicht im elterlichen Anwesen gelebt, sondern bei einem Onkel. Als er eines Tages einkaufen gegangen sei, sei er unterwegs von einer weiteren Taliban-Gruppierung aufgegriffen worden. Diese Gruppe habe etwa 20 Personen umfasst. Als er - wie beim Bundesamt geschildert - einen Lkw für einen Anschlag habe steuern sollen, habe er behauptet krank zu sein. Nachdem die Taliban von der Unterkunft der Gruppierung weggefahren seien und sich dort nur noch eine schlafende Person befunden habe, habe er noch einmal die Flucht ergriffen und sich zu Verwandten begeben, die ebenfalls im Heimatdorf, allerdings etwa zwei Kilometer vom Elternhaus entfernt lebten. Aus Angst vor einer erneuten Verschleppung durch die Taliban habe er Afghanistan verlassen. Nachdem er in Griechenland erkrankt sei, sei er noch einmal nach Afghanistan zurückgekehrt, habe das Land aber noch einmal verlassen, da sein Vater der Meinung gewesen sei, dass es für ihn in Afghanistan keine Sicherheit gebe. Zu den Verwandten, bei denen er nach seinen Fluchten von den Taliban gelebt habe, habe er sich nach seiner Rückkehr aus Griechenland nicht begeben können, weil diese inzwischen Angst bekommen hätten, von den Taliban belangt zu werden, wenn sie ihm Unterschlupf gewährten. Deshalb sei sein Vater zu dem Entschluss gelangt, dass er - der Kläger - das Land wieder verlassen müsse. Dass er insoweit Recht gehabt habe, habe sich nach der Flucht des Klägers bewahrheitet, als er von den Taliban einen Hang hinunter gestoßen worden und dabei schwer verletzt worden sei. Aufgrund dieser Verletzungen seines Vaters habe er - der Kläger - auch keine Unterlagen über seine Entführungen durch die Taliban aus Afghanistan bekommen können. Im Falle der Rückkehr nach Afghanistan drohe ihm, als Deserteur der Taliban und als als deren Feind mit dem Tode bestraft zu werden. Vom afghanischen Staat sei kein Schutz zu erwarten.

Das Gericht glaubt dem Kläger aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung, dass er im Jahre 2010 in sein Heimatdorf zweimal von unterschiedlichen Talibangruppen mitgenommen und beide Male aufgefordert wurde, ein Selbstmordattentat zu begehen, beim ersten Mal mit einer Sprengstoffweste und beim zweiten Mal mit einem mit Sprengstoff beladenen Fahrzeug. Zur Überzeugung des Gerichts wurde er beide Male für den Fall der Weigerung dem Tode bedroht und wird das nach wie vor auch nach seinen beiden - wenn auch recht abenteuerlichen anmutenden - Fluchten. Er hat auf die Fragen des Gerichts detailreiche Antworten gewusst, die seine Verfolgungsgeschichte bekräftigen. Mimik und Gestik haben diesen Eindruck unterstützt. Deshalb misst der erkennende Einzelrichter geringfügigen verbliebenen Differenzen insbesondere auch wegen des Zeitablaufs und des unterschiedlichen kulturellen Hintergrundes keine entscheidende Bedeutung zu.

In Afghanistan und insbesondere auch in der Provinz Paktika, der Heimatprovinz des Klägers, kann von den Taliban eine nichtstaatliche Verfolgung im Verständnis von § 3c Nr. 3 AsylVfG ausgehen, der gegenüber der afghanische Staat nicht zur entsprechenden Schutzgewährung in der Lage ist. Die Taliban sind eine Organisation, die einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets, nämlich Teile von Süd- und Ostafghanistans gewissermaßen beherrscht (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 10.01.2012, S. 12; UNHCR vom 11.11.2011, S. 2). Jedenfalls sind die Taliban als nichtstaatlicher Akteur im Sinne von Art. 6 QRL zu qualifizieren, gegen den derzeit weder der afghanische Staat noch internationale Organisationen in der Lage sind, hinreichenden Schutz vor Verfolgung bzw. ernsthaftem Schaden zu bieten. Insoweit besteht für den Kläger eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für die konkrete Gefahr unmenschlicher Maßnahmen durch die Taliban.

Die Provinz Paktika liegt im Südosten Afghanistans an der Grenze zu Pakistan und hat 420.700 Einwohner. Ihre Hauptstadt ist die Stadt Sharan im Norden der Provinz. Die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung besteht aus sunnitischen Paschtunen. Paktika grenzt an die Provinzen Zabul, Ghazni, Paktia, Khost sowie die pakistanischen Regionen Nord- und Süd-Wasiristan (im Uhrzeigersinn, beginnend im Südwesten). Bedingt durch die abgelegene Lage der Provinz an der Grenze zu Pakistan sowie die langen Zeiten des Bürgerkrieges gibt es in Paktika einen erheblichen Mangel an Infrastrukturen. Verglichen mit anderen afghanischen Regionen, wie z.B. Zabul und Khost machte der Wiederaufbau nach dem Fall der Taliban in Paktika bislang nur langsame Fortschritte. Dies wird ebenfalls auf die abgelegene Lage der Provinz, aber auch auf wiederholte Anschläge auf Aufbauhelfer zurückgeführt. In den südlichen, südöstlichen und östlichen Regionen Afghanistans sind in unterschiedlichem Ausmaß ganze Bezirke, oftmals ganze Regionen, unter der Kontrolle von regierungsfeindlichen Elementen (AGE). Die lokale Bevölkerung informierte UNAMA (United Nations Assistance Mission in Afghanistan), dass große Teile der Provinzen Paktika und Khost im Südosten, komplett unter Kontrolle der AGE - mit Ausnahme der Bezirks- und Provinzhauptstädte - sind. Der Trend in der Sicherheitslage geht in Richtung einer leichten Entspannung: Im ersten Quartal 2013 wurden insgesamt 82 Vorfälle registriert, was im Vergleich zum Vorjahr (91 Vorfälle) einer Senkung um 10 Prozent entspricht ( Bundesasylamt Osterreich, Basisinformationen Afghanistan, 30.09.2013, S. 22 mit Nachweisen). In den ersten 3 Quartalen 2014 gab es in der Provinz offiziell 625 Vorfälle. Im April 2014 töteten die afghanischen Sicherheitskräfte mit westlicher Luftunterstützung 60 Aufständische bei einem Gefecht in der Nähe der pakistanischen Grenze. Im Mai 2014 ergriffen die afghanischen Sicherheitskräfte in der Provinz ein mit Sprengstoff beladenes Auto. Im September 2014 wurden mehr als 30 Aufständische bei einer Luft- und Bodenoffensive getötet. Die Taliban behaupteten sodann, es habe sich bei den Opfern um Zivilisten gehandelt. In der Provinz sind die Taliban sowie andere Gruppen von Aufständischen in einer Vielzahl von Distrikten aktiv (EASO (European Asylum Support Office) Country of Origin Information Report Afghanistan, Security Situation, January 2015, S. 92 ff. mit Nachweisen).

Mit dieser Einschätzung stimmt das Vorbringen des Klägers, eines Paschtunen aus dem Bezirk Zerok (Ziruk) der Provinz Paktika überein.

Zur Überzeugung des Gerichts bot und bietet auch die Hauptstadt Kabul für den Kläger keinen dauerhaften internen Schutz im Verständnis von § 3e AsylVfG. Aufgrund des Umstandes, dass die Taliban im Großen und Ganzen dem Süden und Osten Afghanistans entstammen und untereinander einen regen Informationsaustausch pflegen (Dr. Mostafa Danesch an Nieders. OVG vom 30.04.2013, S. 6). ist davon auszugehen, dass der Kläger wegen der Probleme in seiner Heimatprovinz früher oder später in Kabul entdeckt und bedroht wird. Da die Taliban als Glaubenskrieger auftreten und ihre potentiellen Gegner als "Ungläubige" verfolgen, droht dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan aus religiösen Gründen politische Verfolgung. [...]