VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 15.12.2014 - A 11 K 4458/14 - asyl.net: M22960
https://www.asyl.net/rsdb/M22960
Leitsatz:

Tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China sind einer drohenden Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit ausgesetzt, wenn sie illegal ausgereist sind, einen Asylantrag gestellt und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten haben.

Schlagwörter: China, Tibeter, Sprachanalyse, Tibet, unerlaubte Ausreise, illegale Ausreise, Asylantrag, Auslandsaufenthalt, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AsylVfG § 3 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Zur Überzeugung des erkennenden Gerichts stammt der Kläger, der unbestritten tibetischer Volkszugehörigkeit ist, aus der Volksrepublik China. Ihm droht deshalb im Falle einer erzwungenen Rückkehr asylrelevante Verfolgung durch die chinesischen Behörden, weil er sein Heimatland illegal verlassen, hier einen Asylantrag gestellt, sich längere Zeit im Ausland aufgehalten und hier an China-kritischen Veranstaltungen und Demonstrationen teilgenommen hat und diese Umstände auch den chinesischen Behörden bekannt geworden sind oder im Falle von Abschiebungsmaßnahmen bekannt werden.

Zunächst ist festzustellen, dass das erkennende Gericht keinen Zweifel an der Herkunft des Klägers aus der Volksrepublik China hat. Insbesondere können diese Zweifel nicht auf den Umstand gestützt werden, dass der Kläger sich einer sogenannten Sprach- und Textanalyse verweigert hat. Das erkennende Gericht hat wiederholt entschieden, dass diese Analysen keine Feststellu'hg hi!'sichtlich einer bestimmten Staatsangehörigkeit treffen und im Übrigen fragwürdig, weil methodisch und inhaltlich angreifbar sind, der Gutachter anonym bleibt und zudem als Parteigutachter zu bewerten ist (vgl. dazu ausführlich VG Stuttgart, Urteil vom 20. Februar 2012 - A 11 K 4225/11 -, <juris>) und dass die zugrunde gelegten Tatsachenthesen vielfach nicht zutreffen (vgl. zuletzt Urteil der erkennenden Kammer vom 17.03.2014, - A 11 K 2327/13 -).

Der Kläger, der nach seinen insoweit glaubhaften Angaben keine offizielle Schule besucht und nur etwa drei Jahre lang Unterricht erhalten hat, in welchem er immerhin tibetisch lesen und schreiben lernen konnte, der aber nicht in der Lage ist, geografische Karten zu lesen, hat in der mündlichen Verhandlung seine Herkunftsgemeinde Tashi Gantse, die nächst gelegene große Stadt Shigatse und das dort gelegene Kloster Tashilhunpo benennen und geografisch zuordnen können, was ihm unter den gegebenen Umständen nicht möglich gewesen wäre, wenn er nicht aus der von ihm behaupteten Gegend in Tibet käme. Weiter hat auch die aus Tibet stammende Dolmetscherin bestätigt, dass er dasselbe tibetisch spricht wie sie selbst auch.

Schließlich ist auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge selbst im Ergebnis von der Herkunft des Klägers aus der Volksrepublik China ausgegangen, weil sonst die Androhung der Abschiebung dorthin in dem angefochtenen Bescheid keinen Sinn machen würde.

Ausgehend hiervon kann dahin stehen, ob der Kläger wegen erlittener Verfolgung bzw. wegen unmittelbar drohender Verfolgung aus seinem Heimatland ausgereist ist. Das Gericht hegt gewisse Zweifel an den geltend gemachten Vorfluchtgründen, die denen in anderen Verfahren - z.B. in dem ebenfalls am 15.12.2014 verhandelten Verfahren A 11 K 4457/14 - im Hinblick auf die fluchtauslösenden Umstände aber auch der behaupteten Vorgeschichte - derart ähnlich sind, dass sie wie erfunden wirken. Darauf kommt es jedoch nicht an. Denn der Kläger muss im Falle einer Rückführung nach China jedenfalls aus beachtlichen Nachfluchtgründen Verfolgung befürchten.

Die erkennende Kammer geht aufgrund der Erkenntnislage mit der inzwischen gefestigten Rechtsprechung davon aus, dass Tibeter im Gegensatz zu Han-Chinesen nach illegaler Ausreise und langjährigem Auslandsaufenthalt, gesteigert durch eine Asylantragstellung, generell separatistischer Bestrebungen verdächtigt werden (vgl. etwa Verwaltungsgericht Würzburg, Urteil vom 20.11.2009, - W 6 K 08.30173 -, unter Hinweis auf Verwaltungsgericht Mainz, Urteil vom 13.08.2008, - 8 K 779/07 Mz -; Verwaltungsgericht Bayreuth, Urteil vom 20.12. 2007, - B 5 K 07.30034 -; Verwaltungsgericht Gießen, Urteil vom 04.11.2008, - 2 E 3926/07.A -; Urteil der erkennenden Kammer des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 01.10.2007, - A 11 K 201/07 -; Verwaltungsgericht Chemnitz, Urteil vom 11.04.2006, - 3 A 277/04A -; vgl. zuletzt auch Urteil der Kammer vom 17.03.2014, a.a.O.).

Auch der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg sieht - jedenfalls im Zusammenhang mit der den chinesischen Behörden möglicherweise bekannt gewordenen Teilnahme an Aktionen für die Freiheit Tibets in der Bundesrepublik Deutschland - tibetische Volkszugehörige aus der Volksrepublik China einer drohende Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit ausgesetzt, wenn sie illegal ausgereist sind, einen Asylantrag gestellt haben und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten haben (Urteil vom 03. November 2011, - A 8 S 1116/11 - , <juris>). Wie das Verwaltungsgericht Würzburg (aaO.) zutreffend ausgeführt hat, hat sich die Situation für Exiltibeter aus der Volksrepublik China in den letzten Jahren noch erheblich verschlechtert: Danach haben die Unruhen in Tibet im März 2008 die Überwachungs- und Verfolgungspraxis der chinesischen Behörden gegenüber illegal ausgereisten Tibetern noch verschärft (unter Hinweis auf den Beschluss des BayVGH vom 10.07.2008, - 2 ZB 06.30561). Die Wahrscheinlichkeit, dass der (dortige) Kläger bei einer Rückkehr in die Vo!ksrepublik China unter Annahme ernster und schwerwiegender Tatumstände nach § 322 chinStGB zu einer Freiheitsstrafe wegen illegaler Ausreise verurteilt wird, sei wegen seines nun schon langjährigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland . „ und des dadurch ausgelösten Verdachts separat stscher Bestrebungen beachtlich. Auch das Schweizerische Bundesverwaltungsgericht geht davon aus, dass die Tibeter nach längerem Auslandsaufenthalt wegen illegaler Ausreise begründete Furcht vor gezielten und intensiven Eingriffen im Falle der Wiedereinreise haben müssten (unter Hinweis auf die Urteile vom 15.05.2007 - D-2154/2007 - und vom 20.08.2007 - E- 2110/2007).

Diese Einschätzung wird letztlich auch durch die Auskunft des Auswärtigen Amts vom 26.07.2011 sowie die Gutachten des Sachverständigen Herrn Ludwig vom 23.05.2011 und des Herrn Dodin von TibetlnfoNet vom 01.10.2011 (vgl. dazu das Urteil vom 20.02.2012, - A 11 K 4225/11 -), die Gegenstand der eingeführten Erkenntnismittel sind, nochmals bestätigt. Sowohl (bemüht zurückhaltend) das Auswärtige Amt als auch die beiden Gutachter haben bestätigt, dass bei tibetischen Volkszugehörigen gerade auch im Hinblick auf die illegale Ausreise, auf lange Aufenthaltszeiten und auf eine Asylantragstellung wegen des Verdachts separatistischer Bestrebungen - anders als sog. HanChinesen - im Falle der Rückkehr mit asylerheblichen Verfolgungsmaßnahmen (strafrechtliche Verfolgung einschließlich der Gefahr von Misshandlungen oder Folter) zu rechnen haben. Aktuell wird diese Einschätzung auch vom ~t1sw~rtig. Amt (Auskunft vom 29.04.2013, aaO.) gestützt.

Das Gericht hat sich schon früher in Fortführung der eigenen Rechtsprechung (vgl. Urteil vom 01.10.2007 - aaO. -; Urteil vom 20.02.2012, - aaO.-; vgl. auch Urteil vom 19.03.2012 - A 11 K 3664/11 -) der o.a. Rechtsprechung angeschlossen und macht sich die dort zugrundeliegenden Erkenntnisse zu eigen (vgl. weiter auch Verwaltungsgericht Minden, Urteil vom 16.07.2010, - 4 K 406/1 O.A -; Verwaltungsgericht Sigmaringen, Urteil vom 23.10.2009, - A 6 K 3223/08 -; Verwaltungsgericht Karlsruhe, Urteil vom 06.05.2009, - A 1 K 2242/08 -, vgl. auch VG Augsburg, Urteil vom 16. Mai 2013 - Au 2 K 13.30117 -, <Juris>).

Diese gefahrenbegründenden Umstände liegen beim Kläger, der sich inzwischen seit mehr als zwei Jahren im Bundesgebiet und damit außerhalb seines Heimatlandes aufhält bzw. bis zu einer etwaigen Abschiebung erwartungsgemäß noch viel länger hier aufgehalten haben wird (vgl. dazu Urteil des Schweizerischen Bundesgerichts, aaO.) und hier auch Asyl beantragt hatte, vor und er gehört damit zum gefährdeten Personenkreis im Sinne dieser Rechtsprechung, zumal nach den erwähnten Gutachten auch davon auszugehen ist, dass tibetische Volkszugehörige die Volksrepublik China nur illegal verlassen können (vgl. auch Urteil vom 20.02.2012, - a.a.O. -).

Soweit die geschilderte Gefahr davon abhängig ist, dass den chinesischen Behörden die Anwesenheit des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland bekannt wird, muss davon ausgegangen werden, dass die chinesischen Behörden hiervon schon wegen seines exilpolitischen Engagements Kenntnis erlangt haben. So hat der Kläger vorgetragen und durch Fotografien auch belegt, dass er an der öffentlichkeitswirksamen Demonstration zum Tag der Niederschlagung des Aufstands in Tibet am 10.03.2013 in Frankfurt/Main teilgenommen hat, weshalb er schon deshalb die Aufmerksamkeit der chinesischen Sicherheitsbehörden auf sich gelenkt hat. Außerdem hat er vorgebracht, dass er regelmäßig an den wöchentlichen Mahnwachen in Stuttgart teilgenommen hat und auch dafür sind - exemplarisch - Fotografien vorgelegt bzw. Zeugen angeboten wo [...]