VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 23.03.2015 - A 4 K 46/14 - asyl.net: M22966
https://www.asyl.net/rsdb/M22966
Leitsatz:

Die Voraussetzungen für einen Widerruf von Asyl- oder Flüchtlingsanerkennung bei Tamilen aus Sri Lanka liegen nicht vor. Die Gefahr für tamilische Volkszugehörige in Sri Lanka, wegen eines Verdachts der LTTE-Unterstützung asylrechtlich relevanten Repressalien ausgesetzt zu werden, sind zwar geringer geworden, haben aber nicht in einem solchen Maße abgenommen, dass von einem dauerhaften und stabilen Wegfall der gefahrbegründenden Umstände die Rede sein kann.

Schlagwörter: Widerruf, anerkannter Flüchtling, Sri Lanka, Tamilen, LTTE, Änderung der Sachlage, Wegfall der Umstände,
Normen: AsylVfG § 73 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Diese Voraussetzungen sind hier zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht erfüllt. Nach den dem Gericht vorliegenden Auskünften und Erkenntnissen lässt sich nicht feststellen, dass sich die Sicherheitslage für tamilische Volkszugehörige in Sri Lanka, die ins Blickfeld von Militär und Geheimdienst geraten sind, in einem solchen Ausmaß stabilisiert hat, dass die Annahme gerechtfertigt wäre, es handele sich um eine erhebliche und dauerhafte Veränderung der verfolgungsbegründenden Umstände.

Zwar hat sich die Sicherheitslage in Sri Lanka seit der Anerkennung des Klägers im Jahre 2010 verbessert. Übergriffe von Polizei und Militär haben nachgelassen. Gleichwohl ist die Menschenrechtslage weiter instabil. Nach wie vor gibt es Einschränkungen bürgerlicher Freiheitsrechte, fehlt es an Rechtssicherheit, existiert weitgehende Straflosigkeit staatlicher Akteure sowie weit verbreitete Korruption. Der Ausnahmezustand besteht zwar seit September 2011 nicht mehr. Es hat aber auch nach Beendigung des Ausnahmezustands erneut ernst zu nehmende Berichte über extralegale Tötungen gegeben, die von Menschenrechtsorganisationen auch staatlichen Sicherheitskräften zugeschrieben werden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht Sri Lanka vom 30.10.2013.; UNHCR, Eligibility Guidelines for assessing the International protection needs of asylum-seekers from Sri Lanka, 21. December 2012, S. 16 f). Zudem sind zahlreiche Bestimmungen der Notstandsgesetzgebung in anderen Gesetzen enthalten, z.B. im Antiterrorgesetz (Prevention of Terrorism Act). Presse-, Meinungs- und Informationsfreiheit sind weiter eingeschränkt. Oppositionspolitiker, Menschenrechtsverteidiger und kritische Journalisten müssen mit erheblichen Repressionen rechnen. Menschenrechtsverletzungen werden kaum untersucht oder strafrechtlich verfolgt; auch die jüngsten Verschwundenenfälle sind noch ungeklärt (vgl. Auswärtiges Amt, Lageberichte vom 01.06.2012, 30.10.2013 und 15.10.2014, Amnesty International Report 2013, Sri Lanka).

Mit dem Prevention of Terrorism Act ist zudem der Straftatbestand der Mitgliedschaft bzw. Nähe zur LTTE ab Dezember 2006 erneut eingeführt worden. Jeder, der in den Augen der Sicherheitsorgane der Nähe zur LTTE verdächtig ist, muss auch heute noch damit rechnen, verhaftet zu werden. Auch wer einmal in den Verdacht der LTTE-Nähe geriet - auch wenn sie seinerzeit nicht nachgewiesen werden konnte -, muss damit rechnen, dass der Verdacht ihm später erneut zur Last gelegt wird. Aus Kreisen der Menschenrechtsaktivisten wird in letzter Zeit wieder häufiger von Befragungen bereits entlassener, rehabilitierter Ex-LTTE-Kader berichtet. Dies zeigt, dass bei den Sicherheitsbehörden weiterhin die Besorgnis vorherrscht, noch nicht alle LTTE-Reste innerhalb der tamilischen Bevölkerung aufgespürt zu haben (Lageberichte des AA vom 30.10.2013 und 15.10.2014). Die Sicherheitskräfte haben weitgehende Ausnahmerechte. Im März/April 2014 hat die srilankische Regierung Ihre Antiterrormaßnahmen auch noch deutlich verschärft. Kontrolle durch Polizei und Militär haben nach Einschätzung von Menschenrechtsorganisationen und Menschenrechtsanwälten seit Anfang 2014 im Norden wieder deutlich zugenommen. Nach Einschätzung nationaler und internationaler Beobachter wird dies als Reaktion auf die Resolution zum Sri Lanka im Menschenrechtsrat im März 2014 gesehen, da dieser das VN-Hochkommissariat für Menschenrechte mit einer internationalen Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen bzw. Menschenrechtsverletzungen sowohl der srilankischen Streitkräfte als auch der LTTE beauftragt hatte. Zeitgleich mit der Sitzung des Menschenrechtsrats im März 2014 wurden etwa 65 Zivilisten unter dem Verdacht der LTTE-Nähe festgenommen, darunter auch Frauen und Jugendliche sowie ein katholischer Priester. Die meisten befanden sich auch Ende Mai 2014 noch ohne Anklageerhebung in Haft im gefürchteten Armee-Camp Boosa (Lagebericht des AA vom 15.10.2014). In den ehemaligen Kerngebieten der LTTE im Norden (Distrikte Jaffna, Kilinochchi und Mullaittivu) ist nach wie vor eine hohe Präsenz des Militärs zu verzeichnen. Hier hat das Militär auch Einfluss auf Angelegenheiten der Zivilverwaltung, die Wiederaufbaumaßnahmen und Polizeiangelegenheiten (z.B. Genehmigung von Versammlungen); spürbar ist nach Aussagen von Menschenrechtsaktivisten und Nichtregierungsorganisationen die zunehmende Kontrolle durch das Militär. Dabei sind Tamilen durch ihre Sprache und die entsprechenden Einträge in Ausweiskarten für die Sicherheitskräfte leicht identifizierbar. Menschenrechtsorganisationen gehen dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes von 2014 zufolge davon aus, dass es im Polizeigewahrsam regelmäßig zu Folter kommt. Zahlreiche Berichte belegten, dass die verschiedenen Sicherheitskräfte Sri Lankas Folter häufig oder gar systematisch anwendeten, um Geständnisse zu erpressen. Folter sei ein gesellschaftlich anerkanntes Mittel während polizeilicher Untersuchungen und gängige Praxis insbesondere im Rahmen der Terrorismusbekämpfung (vgl. Auswärtiges Amt a.a.O.). Von Juni bis Mai 2014 wurden drei weitere Todesfälle von Personen in Polizeigewahrsam gezählt. 2012 kam es zum Tod von 27 Gefängnisinsassen bei einem Gefängnisaufstand. Mitte 2013 wurden zwei aus der Schweiz rückgeführte Sri Lanker verhaftet. Bisher ist keine Anklageerhebung erfolgt. Auch Human Rights Watch weist dem Lagebericht des Auswärtigen Amts von 2014 zufolge auf neuere, im Februar 2014 veröffentlichte Beweise von Folter gegen LTTE-Verdächtige hin. Eine im März 2014 vorgelegte Studie, die auf 40 Zeugenaussagen basiert, kam zu dem Schluss, dass es ein systematisches Muster von Festnahmen, Vergewaltigungen und sexueller Gewalt durch srilankische Sicherheitskräfte gegen LTTE-Verdächtige und Rückkehrer gebe. Die eine Hälfte der dokumentierten Fälle soll nach Kriegsende 2009 stattgefunden haben, die andere Hälfte in den Jahren 2013/2014. Die meisten Opfer seien freiwillig nach Sri Lanka zurückgekehrt, dort dann aber verhaftet und misshandelt und schließlich gegen Geldzahlungen freigelassen worden. Die Interviews der Opfer, die offenbar gegen Bezahlung über Schleppernetzwerke erneut ins Ausland gelangten, fanden außerhalb Sri Lankas statt und sind durch medizinische Untersuchungen untermauert. (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 15.10.2014).

Die richterliche Kontrolle der Sicherheitskräfte war und ist unter dem derzeit noch geltenden Antiterrorgesetz nicht ausreichend gewährleistet. Nur in wenigen Fällen werden Folter und Misshandlungsvorwürfe gerichtlich untersucht. Verurteilungen der Täter gibt es in der Regel nicht. Die letzte bekannte medienwirksame Ausnahme war im Jahr 2006 eine Verurteilung von sieben Polizisten durch den Obersten Gerichtshof zu Entschädigungszahlungen an einen Gefolterten, der allerdings zwei Jahre nach seiner Freilassung von Unbekannten getötet wurde (Auswärtiges Amt a.a.O.). Bei Strafverfahren im Zusammenhang mit dem Verdacht einer Unterstützung der LTTE drohen auch bei relativ geringfügigen Delikten drakonische Haftstrafen (Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 15.10.2014).

Insgesamt lässt sich hiernach feststellen, dass die Gefahr für tamilische Volkszugehörige, in Sri Lanka wegen eines Verdachts der LTTE-Unterstützung asylrechtlich relevanten Repressalien ausgesetzt zu werden, zwar geringer geworden ist, aber nicht in einem solchen Ausmaß abgenommen hat, dass von einem dauerhaften und stabilen Wegfall der gefahrbegründenden Umstände die Rede sein kann. Die Voraussetzungen für einen Widerruf von Asyl- und Flüchtlingsanerkennung liegen damit nicht vor. [...]