VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Beschluss vom 05.02.2015 - 5 K 567/14.F.A - asyl.net: M22971
https://www.asyl.net/rsdb/M22971
Leitsatz:

1. Wird ein Asylbewerber nicht innerhalb der Überstellungsfrist vom ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat überstellt, so geht die internationale Zuständigkeit für das Verfahren auf internationalen, hilfsweise subsidiären, Schutz auf ihn über.

2. Die Überstellungsfrist beginnt im Fall der Ablehnung einer Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit dem Ergehen dieses Beschlusses.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Überstellungsfrist, Zuständigkeit, Zuständigkeitsübergang, Fristablauf, Fristbeginn,
Normen: AsylVfG § 27a, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 1 S. 2, AsylVfG § 34a,
Auszüge:

[...]

1. Die nach § 34a AsylVfG vom Bundesamt erlassene Abschiebungsanordnung nach Ungarn ist nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung aufzuheben. Zu beurteilen ist der Fall der Klägerin wegen ihrer Asylantragstellung nach dem 1. Januar 2014 aufgrund von Art. 16a Abs. 4 GG in Verbindung mit der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31; im Folgenden: "Dublin III-VO"). Zwar ist aufgrund der im angegriffenen Bescheid des Bundesamtes getroffenen Feststellungen und gegebenen Begründung sowie den Gründen des Beschlusses vom 3. März 2014 davon auszugehen, dass anfangs die Beklagte für die Durchführung eines Asylverfahrens international nicht zuständig war, doch ist mit Ablauf der Überstellungsfrist die internationale Zuständigkeit nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO von Ungarn auf die Beklagte übergegangen. Dieser Normbefehl lautet:

(2) Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

Der Ablauf der Überstellungsfrist stellt sich mithin als besonderes Kriterium dar, das speziell geregelt ist. Dafür, dass im Fall der Klägerin eine längere als die sechsmonatige Frist gelte, ist nichts ersichtlich. Die systematische Stellung dieses Normbefehls im Kapitel VI "Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren" statt dem in Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO in Bezug genommenen Kapitel III "Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaats" steht schon deshalb einem Übergang der internationalen Zuständigkeit auf die Beklagte nicht entgegen, als Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO auf die Bestimmung "anhand der Kriterien dieser Verordnung" abstellt, also für die Zuständigkeitsbestimmung keine zwingende und ausschließliche Beschränkung auf das Kapitel III enthält, sowie sich weitere Kriterien auch im Kapitel IV "Abhängige Personen und Ermessensklauseln" finden. Die Ansicht der Beklagten, die internationale Zuständigkeit verbleibe ungeachtet des Ablaufs der Überstellungsfrist bei Ungarn, würde den Status der Klägerin wegen einer nicht mehr bestehenden Verpflichtung Ungarns, die Klägerin wiederaufzunehmen, faktisch ungeklärt lassen und liefe auf eine Dauerduldung hinaus.

Zur Überzeugung des Gerichts beginnt die Überstellungsfrist mit dem Ergehen des Beschlusses, durch den nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG die aufschiebende Wirkung eines Aussetzungsantrages gegen die Abschiebungsanordnung entfällt, denn bei dieser handelt es sich um eine gerichtliche Entscheidung "mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann" im Sinne des Europäischen Gerichtshofs (Vierte Kammer), Urteil vom 29. Januar 2009, C-19/08 "Petrosian", Celex-Nr. 62008CJ0019, Rn. 46 (zur Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO entsprechenden Vorgängerreglung des Art. 20 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003, "Dublin II-VO"). Da ein vorläufiger Rechtsschutz für die Klägerin durch den Beschluss vom 3. März 2014 abgelehnt worden ist, kommt es für den Fristbeginn hier (anders als im Fall des Europäischen Gerichtshofs, a.a.O., Rn. 52 f., oder dem Beschluss des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 25. August 2014 – 2 A 976/14.A – juris, Rn. 14, in dem der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erfolgreich war) nicht auf die Rechtskraft eines Urteils an, denn die insoweit maßgeblichen innerstaatlichen Rechtsvorschriften lassen den ablehnenden Beschluss eine für die Überstellung vollwertige Entscheidung sein. Auch wenn völkerrechtliche Zuständigkeitsregelungen prinzipiell keine subjektiven Rechte zu begründen vermögen, muss sich hier der Übergang von Ungarn auf die Beklagte zugunsten der Klägerin auswirken.

2. Der Asylantrag der Klägerin ist damit im Umkehrschluss aus § 27a AsylVfG zulässig (geworden). Demgemäß hat nunmehr die Beklagte ein Asylverfahren durchzuführen. Zu einer weitergehenden Verpflichtung ist die Beklagte nicht zu verurteilen, denn der Herbeiführung einer Spruchreife durch das erkennende Gericht steht der Grundsatz der Gewaltenteilung entgegen. Die Beklagte wird mithin zu klären haben, wie sich das Verhalten der Klägerin auf die Gewährung internationalen, hilfsweise subsidiären, Schutzes auswirkt, was die Klägerin sachlich vorzubringen hat und ob Abschiebungsschutz auf nationaler Grundlage zu gewähren sei; sollte sich danach kein Bleiberecht ergeben, wird auch ein Abschiebung in den Herkunftsstaat zu prüfen sein. [...]