VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 17.06.2015 - 6 L 712/15.A - asyl.net: M23007
https://www.asyl.net/rsdb/M23007
Leitsatz:

Die gegenwärtige massenhafte Zuwanderung von Migranten über das Mittelmeer nach Italien belegt derzeit keine systemischen Schwachstellen des italienischen Asyl- und Aufnahmeverfahrens.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Aufnahmebedingungen, Asylverfahren, systemische Mängel,
Normen: AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a,
Auszüge:

[...]

Es liegt überdies keine Unmöglichkeit der Überstellung des Antragstellers nach Italien vor. Nach Art. 3 Abs. 2 2. UA Dublin III-VO kommt solches in den Fällen in Betracht, in denen es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in dem zuständigen Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Italien weist unter Berücksichtigung der allgemein bekannten Umstände und in Ansehung fehlender konkreter Einzelfallumstände des Antragstellers jedenfalls keine hier berücksichtigungsfähigen systemischen Schwachstellen i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auf, die zwingend zur Abweichung vom Zuständigkeitsregime der Dublin-Verordnung führen würden. Es liegt auch mit Blick auf die tagesaktuellen Medienberichte über einen relativ massenhaften Andrang von Migranten namentlich über den Seeweg nach Italien kein Ernst zu nehmender Anhalt dafür vor, dass das italienische Asyl- und Aufnahmeverfahren regelmäßig nicht mehr dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) gerecht wird (vgl. zu den Anforderungen: EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - Rs. C-411/10 und C-493/10 -, juris). Dabei stehen einer Überstellung im Rahmen des Dublin-Systems nicht schon (irgend)eine Verletzung von EU-Recht, vereinzelte Verstöße gegen sonstige Grundrechte sowie anderweitige Missstände unterhalb der Schwelle "systemischer Mängel" entgegen (vgl. Thym, Zulässigkeit von Dublin-Überstellungen nach Italien, ZAR 2013, S. 331, unter Bezugnahme u.a. auf EGMR, Beschluss vom 2. April 2014 - Nr. 27725/10 -, ZAR 2013, 336), sondern nur regelhafte Defizite des Asyl- und/oder Aufnahmeverfahrens, die den Antragsteller in seiner konkreten Situation betreffen können, sowie außergewöhnlich zwingende humanitäre Gründe i.S.v. Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO (vgl. EuGH a.a.O. betr. vergleichbare Bestimmungen der Dublin II-VO).

Mit Blick z.B. auf die Entscheidungen des EGMR (vom 2. April 2013, Nr. 27725/10, ZAR 2013, 336; vom 18. Juni 2013, Nr. 53825/11, ZAR 2013, 338; vom 4. November 2014, Nr. 29217/12; vom 13. Januar 2015, Nr. 51428/10), des Bundesverfassungsgerichts vom 17. September 2014 (2 BvR 939/14, juris), des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg (vom 25. September 2013, OVG 3 S 68.13; vom 17. Juni 2013, OVG 7 S 33.13; juris), des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt (vom 14. November 2013, 4 L 44/13, juris), des Oberverwaltungsgerichts Niedersachsen (vom 30. Januar 2014, 4 LA 167/13, AuAS 2014, 44) sowie der Oberverwaltungsgerichte Rheinland-Pfalz (vom 21. Februar 2014, 10 A 10656/13, juris) und Nordrhein-Westfalen (vom 7. März 2014, 1 A 21/12.A, juris), auf die sämtlich Bezug genommen wird, können pauschal behauptete systemische Mängel des italienischen Asylverfahrens in dieser Allgemeinheit nicht angenommen werden. Der Antragsteller selbst hat insoweit überhaupt nichts Konkretes angeführt.

Dass sich der Antragsteller seinen asyl- und aufenthaltsrechtlichen Verpflichtungen und Obliegenheiten - wie neuerdings zunehmend viele andere eritreische Migranten - in Italien zu entziehen sucht, mag vielleicht menschlich nachvollziehbar sein; rechtlich stellt sich dieses Verhalten als ein unter aufenthaltsrechtlichen Gesichtspunkten missbräuchliches "forum shopping" dar. Es ist kein konkretes Vorkommnis und kein bestimmter Umstand erkennbar, weshalb es ihm nicht zumutbar sei, seine Rechte in Italien zu verfolgen. Er lässt nicht erkennen, dass und inwieweit er sich vergeblich zur Durchsetzung seiner vermeintlichen Rechte Gehör bei den zuständigen italienischen Stellen verschafft hat oder dass er sich dort ggf. nicht um gerichtliche Hilfe und evt. um anwaltliche Unterstützung bemühen könnte. Er hat nicht einmal konkrete Angaben zu den Gründen der Weiterwanderung nach Deutschland gemacht.

Soweit der in Italien gestellte Asylantrag des Antragstellers noch nicht beschieden sein sollte, wird der Asylantrag im Falle einer Überstellung in Italien in einem grundsätzlich funktionierenden Asylverfahren bearbeitet und der Antragsteller wird derweil wahrscheinlich angemessen versorgt. Es ist ihm zumutbar, sein Schutzgesuch in Italien zu verfolgen; dass er die zumutbaren Eigenanstrengungen - auch mit Unterstützung aus dem Kreis der vielen anderen eritreischen Migranten in Italien - nicht zu leisten imstande ist, erschließt sich nicht. [...]

Ein Asylsuchender kann in Italien sowohl bei den Polizeihauptquartieren (Questuras) als auch bei der Grenzpolizei in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz stellen (vgl. aida-Report vom November 2013, S. 9). Dieser Antrag wird registriert und dem Asylsuchenden eine Unterkunft, bisweilen auch nur eine Notunterkunft zugewiesen. Freilich ist bekannt geworden, dass die Zuweisung einer Unterkunft einige Zeit - bis zu mehrere Monate - dauern kann, insbesondere in den italienischen Ballungsräumen (vgl. UNHCR, Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien, Juli 2013, S. 6; gleichlautend von Dezember 2013; Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG Nordrhein-Westfalen vom 11. September 2013, S. 2). Entgegen älteren Auskünften haben die zuständigen italienischen Behörden aber zwischenzeitlich erhebliche Anstrengungen unternommen, das Registrierungsverfahren für Asylanträge durch ein neues Onlinesystem und interne Anweisungen zu beschleunigen, die Bearbeitung von Einzelfällen im gesamten Verfahren zu verbessern und die Zeit zwischen Antragstellung und Registrierung zu überwachen und Verzögerungen entgegenzuwirken (UNHCR, a. a. O., S. 6). In dieser Übergangszeit sorgen an den Flughäfen Hilfsorganisationen für eine erste Betreuung der Asylsuchenden (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 5), und der Staat sorgt in den Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber (CARA) für eine vorläufige Unterbringung. Anschließend erfolgt eine Unterbringung in den SPRAR-Einrichtungen und FER-Projekten. Selbige Einrichtungen stehen auch dann zur Verfügung, wenn Dublin-Rückkehrer bei noch nicht beendetem Asylverfahren wieder aufgenommen werden (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 3, und Auskunft vom 21. August 2013 an das OVG Magdeburg, S. 2).

Allerdings kann dieser Verfahrensgang angesichts der anhaltend hohen, derzeit offenbar weiter steigenden Zahl von Asylsuchenden insbesondere aus Afrika nicht immer gewährleistet werden. Es ist ferner bekannt geworden, dass in Mailand für die Registrierung eines Asylantrags in systemfremder Weise zusätzlich eine Wohnungsbestätigung des Asylsuchenden verlangt wird (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 5). Je nach Status des Asylsuchenden und nach konkretem Aufnahmeort ergibt sich ein recht unterschiedliches Bild, das oftmals von Überbelegungen und personellen Engpässen in den (jeweils betroffenen einzelnen) Aufnahmeeinrichtungen, bei der Verfahrensbearbeitung und in der Gesundheitsversorgung geprägt ist (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 20 ff., amnesty international, Jahresbericht 2013 Italien).

Gleichwohl rechtfertigen diese überwiegend nur punktuellen Befunde nicht die Feststellung, dass in Italien gravierende, systemische Mängel bei der Aufnahme von Asylbewerbern bestehen, die in der Breite alle Asylsuchenden regelmäßig einer erniedrigenden Behandlung aussetzten. So ist festzustellen, dass die Anzahl der Unterbringungsplätze bis Ende Februar 2015 auf 30.000 erhöht werden konnte, davon CARA/CDA 9.504 und SPRAR 20.596 (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 25. März 2015, S. 2). Hinzu kommen Ende Februar 2015 etwa 37.000 Unterbringungsplätze in temporären Strukturen, wo die Versorgung der Asylbewerber in der Regel sichergestellt ist (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 25. März 2015; vgl. auch UNHCR, Juli 2013 S. 10 ff.).

Auch die aus der aktuellen Presseberichterstattung zu entnehmende steigende Anzahl von auf dem Seeweg nach Italien gelangenden Migranten führt - jedenfalls für sich genommen - nicht zu einer abweichenden Bewertung der insgesamt unionsrechtskonformen Verhältnisse in Italien. Denn mit dem steigenden Zustrom von Migranten aus Drittländern geht eine ganz erhebliche, ebenfalls steigende Anzahl illegal aus Italien in andere Mitgliedstaaten weiterwandernder Migranten einher, die im Wege des "forum shopping" offensichtlich günstigere Verhältnisse z.B. in Deutschland suchen, was wiederum keinen Rückschluss auf systemisch überforderte Aufnahmekapazitäten in Italien zulässt. [...]

Nach alledem kommt bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nur ausnahmsweise für besonders schutzbedürftige Personen (vgl. Art. 21 Richtlinie 2013/33/EU vom 26. Juni 2013, ABl. L 180/96 "Aufnahmerichtlinie n.F." derzeit Art. 17 Abs. 1 Richtlinie 2003/9/EG vom 27. Januar 2003, ABl. 31/18 "Aufnahmerichtlinie a.F.") ein Verbot der Rücküberstellung nach Italien in Betracht. Dies folgt sowol aus der sog. "Tarakhel-Entscheidung" des EGMR vom 4. November 2014 (s.o.) als auch im Gegenschluss aus der EGMR-Entscheidung vom 13. Januar 2015, wonach ein "able young man with no dependants" (lebenstüchtiger junger Mann ohne abhängige Familienangehörige) in Italien keine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EGMR erfährt. Dass der Antragsteller die Voraussetzungen einer besonderen Schutzbedürftigkeit erfüllt, wird nicht glaubhaft gemacht und ist auch sonst nicht ersichtlich.

Klarstellend wird darauf hingewiesen, dass keineswegs "die Mängelfreiheit des (italienischen) Asylsystems" unterstellt wird - wie übrigens auch das deutsche Asylsystem durchaus Mängel aufweist. Der Antragsteller hat aber nicht glaubhaft gemacht, dass ihn spezifische regelhafte Verstöße Italiens gegen die einschlägigen asyl- und/oder aufnahmerechtlichen Verpflichtungen in seiner konkreten Situation in erniedrigender bzw. unmenschlicher Weise betreffen können (vgl. zu diesem Maßstab: EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 - Rs. C-394/12 -, NVwZ 2014, 208; ferner: BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 - 10 B 6.14 -, juris). Aus der Verfolgungs- und sonstigen Fluchtgeschichte resultierenden seelischen Belastungen bestehen hier wie dort gleichermaßen. Trotz aller amtsbekannten Defizite des italienischen Asylverfahrens ist es aber nicht ernstlich zweifelhaft, dass der Antragsteller im Falle einer "Dublin-Überstellung" sogleich Zugang zur dortigen Asylbehörde erhalten kann (vgl. z.B. UNHCR von Dezember 2013 unter 6.). Im Übrigen schulden die Mitgliedstaaten keine gleichen, insbesondere keine auf dem vergleichsweise hoch erscheinenden deutschen Niveau liegenden Asyl- und Aufnahmebedingungen, sondern die Einhaltung der unionsrechtlichen Verpflichtungen, ohne dass es dabei regelhaft zu erniedrigenden und/oder unmenschlichen Verhältnissen in der konkreten Situation der betroffenen Person kommt (so bereits EuGH vom 21. Dezember 2011 a.a.O.). [...]