VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 07.05.2014 - 3 K 1324/11.KS.A - asyl.net: M23014
https://www.asyl.net/rsdb/M23014
Leitsatz:

Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylVfG aufgrund drohender Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung im Iran wegen der Geburt eines unehelichen Kindes in Deutschland.

Schlagwörter: Iran, nichteheliches Kind, subsidiärer Schutz, Hadd-Strafe, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, nicht ehelicher Geschlechtsverkehr,
Normen: AsylVfG § 4 Abs. 1 S. 2, AsylVfG § 4,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist in dem von der Klägerin aufrechterhaltenen Umfang begründet. Ihr ist der subsidiäre Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG zuzuerkennen. Die auf dem damaligen Recht beruhende entgegenstehende Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Nr. 2 seines Bescheides vom 10.10.2011, den Antrag auf Abänderung des früheren Bescheides vom 29.06.2004 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG abzuändern, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin i.S. von § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in ihren Rechten.

Die Klägerin hat deshalb Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylVfG, weil ihr im Falle einer angenommenen Rückkehr in den Iran dort eine als unmenschlich bzw. erniedrigend zu bewertende Bestrafung und/oder eine sonstige unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ernsthaft droht. Einer solchen Gefährdung unterliegt die Klägerin deshalb, weil sie während ihres Aufenthalts in Deutschland ein aus einer nichtehelichen Beziehung stammendes Kind geboren hat. Dieses Verhalten ist nach den im Iran geltenden strafrechtlichen Bestimmungen mit Strafe bewehrt.

Im Iran ist der Geschlechtsverkehr auf Grund der entsprechenden Vorgaben des Koran nur zwischen Eheleuten legitim und legal. Die Geburt eines nichtehelichen Kindes erfüllt den Tatbestand des (meist als Ehebruch bezeichneten) illegalen Geschlechtsverkehrs (zina). Ein Zeugenbeweis oder eine Aussage der Frau ist hierbei nicht erforderlich. Die strafrechtliche Ahndung ist im iranischen Strafgesetzbuch allerdings differenzierter ausgestaltet.

Das "Gesetz über die islamischen Strafen" vom 30. Juli 1991 sieht in den Art. 63 und 64 im Falle des unerlaubten Geschlechtsverkehrs die Verhängung einer Hadd-Strafe vor. Hadd-Strafen sind bei unerlaubtem Geschlechtsverkehr in bestimmten Fällen die Verhängung der Todesstrafe oder die Steinigung (Art. 82 bis 84), ansonsten bei Frauen die Verabreichung von 100 Peitschenhieben (Art. 88). Die Hadd-Strafe wird nach Art. 68 im Falle eines viermaligen Geständnisses verhängt. Gesteht der oder die Betroffene weniger als viermal - das Geständnis muss in vier Sitzungen abgelegt werden und kann von dem oder der Betroffenen bis zuletzt widerrufen werden -, ist eine ta'zir Strafe verwirkt (nach Art. 16 eine Züchtigung oder Strafe nach Ermessen des Richters, die unterhalb des Maßes der Hadd-Strafe liegen muss). Im Übrigen wird der unerlaubte Geschlechtsverkehr durch "vier rechtschaffene männliche Zeugen oder durch drei rechtschaffene männliche und zwei rechtschaffene weibliche Zeugen" bewiesen (Art. 74), wobei die Zeugen den unerlaubten Geschlechtsverkehr selbst gesehen oder gehört haben müssen und ihre Aussage hinsichtlich Ort, Zeit und anderer Umstände übereinstimmen muss (vgl. zum Vorstehende: Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 25.11.2013 und Gutachten des Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vom 04.05.2014).

Durch die Rückkehr mit einem minderjährigen, nicht aus einer ehelichen Verbindung oder zumindest aus einer Ehe auf Zeit (mut'a) [stammenden] und damit im Iran nicht als ehelich geltenden Kindes (vgl. hierzu Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vom 04.05.2014, S. 1) wird der nach den im Iran herrschenden religiösen und rechtlichen Vorstellungen illegale Geschlechtsverkehr der Klägerin offenbar werden und sie dem ernsthaften Risiko einer Strafverfolgung nach den oben genannten Bestimmungen des iranischen Strafgesetzbuches ausgesetzt, wobei der Klägerin die in Art. 88 der iranischen Strafgesetzbuches vorgesehene Hadd-Strafe der Auspeitschung droht. Dieses im Iran als Straftat betrachtete Verhalten im Ausland wir nach Art. 7 des iranischen Strafgesetzbuches nach iranischem Strafrecht geahndet.

Es ist davon auszugehen, dass der unerlaubte nichteheliche Geschlechtsverkehr im Falle der Klägerin durch die iranischen Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte als in einer zur Strafverfolgung und Verurteilung ausreichenden Weise bewiesen erachtet erden wird. Ob dabei durch die zuständigen iranischen Behörden und Organe allein auf die Tatsache der Geburt des Kindes der Klägerin als Beweis abgestellt werden wird, ist fraglich, kann aber letztlich dahinstehen.

Die Bestimmung in Art. 73, wonach die Tatsache der Schwangerschaft bei einer nicht verheirateten Frau allein keine Hadd-Strafe begründet, ist im Zuge der Einführung iranischen Strafgesetzbuches vom 08.06.2013 gestrichen worden. Ob damit die verheiratete Frauen im früheren Recht vorgesehene Begünstigung ersatzlos entfallen ist mit der Folge, dass künftig allein auf die Schwangerschaft als Beweismittel abgestellt werden kann, oder ob damit, wie das Auswärtige Amt in der oben genannten Auskunft vom 25.11.2013 meint, der Tatbestand der Geburt eines nichtehelichen Kindes als solcher straffrei gestellt werden sollte, ist unklar. Hierauf kommt es indessen auch nicht entscheidend an.

Der der Klägerin zur Last gelegte unerlaubte Geschlechtsverkehr wird nämlich aller Voraussicht nach durch ihr Geständnis als bewiesen betrachtet werden. Bei der nach der Rückkehr in den Iran mit ihrem Kind zu erwartenden intensiven Befragung über den Aufenthalt der Klägerin in Deutschland wird mit Sicherheit auch das sittliche Verhalten der Klägerin im Ausland und ihre nichteheliche Beziehung zu dem Kindesvater zur Sprache kommen. In diesem Zusammenhang ist zu erwarten, dass man massiven Druck auf die Klägerin ausüben wird, bezüglich des von ihr nicht bestreitbaren unerlaubten Geschlechtsverkehrs ein strafrechtlich verwertbares Geständnis abzulegen. An den seit längerem zu beobachtenden menschenrechtswidrigen Zuständen bei der Verfolgung tatsächlicher oder unterstellter Straftaten im Iran hat sich nichts Wesentliches geändert. Nach wie vor werden Zeugen durch Drohungen zu belastenden Aussagen und Verdächtige durch Folter und psychischen Druck zu Geständnissen gezwungen. Die Unschuldsvermutung wird mitunter nicht beachtet (Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.02.2014, S. 25). Mit Rücksicht hierauf kann das Gericht den vom Auswärtigen Amt in seiner für das Gericht im vorliegenden Verfahren erstellten Auskunft betonten Beweisschwierigkeiten zum Nachweis des unerlaubten Geschlechtsverkehrs keine der Gefahr einer drastischen Bestrafung der Klägerin entgegenstehenden Anhaltspunkte entnehmen. [...]