VG Kassel

Merkliste
Zitieren als:
VG Kassel, Urteil vom 07.05.2014 - 3 K 223/12.KS.A - asyl.net: M23015
https://www.asyl.net/rsdb/M23015
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG aufgrund der Gefahr der erneuten Bestrafung im Iran wegen in Deutschland verübter Taten.

Schlagwörter: Iran, Doppelverfolgung, Doppelbestrafung, Straftat, Drogendelikt, Todesstrafe, Freiheitsstrafe, Tötungsdelikt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 77 Abs. 1 Satz AsylVfG ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit auf die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen. Damit ist für die Prüfung, ob die rechtlichen Voraussetzungen für die im Bescheid vom 30.03.1994 auf der Grundlage des damals geltenden Rechts enthaltene Feststellung, dass im Fall des Klägers ein Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG besteht, vorliegen, die entsprechende Bestimmung des geltenden Rechts, nämlich das (nationale) Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG heranzuziehen. Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für ihn eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib und Leben oder die Freiheit besteht.

Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers nach wie vor erfüllt. Entgegen der Ansicht des Bundesamtes unterliegt der Kläger einer fortbestehenden Gefahr, im Falle der Rückkehr in sein Heimatland wegen der von ihm wegen seines Aufenthaltes in Deutschland verübten schweren Straftaten im Iran erneut verurteilt zu werden, wobei mit Rücksicht auf die Schwere der Straftaten und die Begleitumstände der Taten eine massive Bestrafung bis hin zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe ernstlich zu besorgen ist.

Nach gegenwärtiger Erkenntnislage - diese entspricht im Wesentlichen derjenigen, die der Hessische Verwaltungsgerichtshof in seinem Grundsatzurteil vom 10.08.2011 - 6 A 95/10.A - zu Grunde gelegt hat -, besteht im Iran nach wie vor die Möglichkeit einer erneuten Bestrafung wegen einer bereits im Ausland abgeurteilten Straftat. Zwar enthält das neue iranische Strafrecht in Art. 5 bis 8 iranStGB Regelungen über den Ausschluss einer Doppelbestrafung. Dieses Verbot gilt indessen nur sehr eingeschränkt.

Gemäß Art. 5 iranStGB wird jeder Iraner oder Ausländer, der bestimmte Straftaten im Ausland begangen hat (Taten gegen die Islamische Republik, die innere und äußere Sicherheit des Landes, Fälschung von Urteilen, Anordnungen, Siegeln und in bestimmten Fällen von Unterschriften) und im Iran festgenommen wird, nach den jeweils geltenden iranischen Gesetzen bestraft. Die Berücksichtigung einer bereits im Ausland wegen derselben Tat erfolgten Verurteilung ist lediglich bei der Verhängung der Taaziraat-Strafe vorgesehen. Bei Verhängung islamischer Strafen (Hudud-, Quesas- oder Blutgeldstrafen) ist eine im Ausland erfolgte Bestrafung ohne Einfluss. Insbesondere bei Betäubungsmittelvergehen droht eine weitere Bestrafung. Die Wahrscheinlichkeit der Doppelbestrafung nimmt zu, wenn der Inhaftierte von der Iranischen Botschaft oder einem iranischen Generalkonsulat in Deutschland betreut wurde und die Iranischen Behörden in diesem Zusammenhang von der Straftat Kenntnis erlangt haben oder wenn den iranischen Behörden im Zusammenhang mit der Rückführung entweder direkt mitgeteilt oder durch die Umstände der Rückführung dargelegt wird, dass sich bei der Person um einen Straftäter handelt. Wenn die iranischen Behörden von dem Delikt Kenntnis erhalten, ist eine erhöhte Wahrscheinlichkeit der erneuten Verfolgung nach den Erfahrungen des Auswärtigen Amtes bei Fällen gegeben, die aus iranischer Sicht von besonderer Bedeutung sind. Derartige Fallgestaltungen liegen etwa dann vor, wenn ein iranischer Staatsangehöriger Opfer einer Straftat geworden ist und er selbst oder seine Familie diese im Iran zur Anzeige bringen. Weiterhin besteht die Gefahr einer erneuten Bestrafung mit Wahrscheinlichkeit dann, wenn die Tat selbst oder jedenfalls ein Teil desselben in Iran begangen wurde oder bei schwerwiegenden Fällen, die in der deutschen Öffentlichkeit besonderes Aufsehen erregt und daher aus iranischer Sicht das Bild der Rat im Ausland beschädigt haben. Zwar sind in jüngster Vergangenheit keine konkreten Fälle von Doppelbestrafung bekannt geworden, sie können jedoch nicht prinzipiell ausgeschlossen werden (vgl. zum Vorstehenden Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.02.2014, Stand: Oktober 2013, S. 26).

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnislage ist im Falle des Klägers von einer erhöhten Wahrscheinlichkeit der erneuten Bestrafung wegen der von ihm in Deutschland verübten schwerwiegenden Straftaten auszugehen.

Der Kläger wurde am 1992 durch das Landgericht Darmstadt wegen Totschlags und versuchtem Totschlag rechtskräftig verurteilt. Opfer der dieser Verurteilung zu Grunde liegenden Tat waren zwei iranische Staatsangehörige, nämlich die damalige Lebensgefährtin des Klägers, die bei dem Vorfall schwer verletzt wurde, und ihr Bruder, den der Kläger im Verlaufe der auf einen Streit folgenden Auseinandersetzung durch einen Stich in den Bauch tötete. Über die Strafverhandlungen und die nachfolgende Verurteilung des Klägers wurde wiederholt in der örtlichen Presse berichtet (Presseberichte vom ... 1992 und ... 1992). Darüber hinaus nahmen die Angehörigen der Opfer regelmäßig an diesen Verhandlungen teil und haben dem Kläger angedroht, ihn nach Rückkehr in den Iran dort zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Diese Drohungen wurden nach den auch insoweit glaubhaften Angaben des Klägers auch noch in jüngster Zeit ausgestoßen. Der Kläger erklärte in der mündlichen Verhandlung hierzu, dass seine Schwester Ende des letzten Jahres zu Besuch gewesen sei und ihm erzählt habe, dass die Schwester seiner ehemaligen Lebensgefährtin sie im Iran darüber unterrichtet habe, dass man weiterhin nach ihm - dem Kläger - suche. Wörtlich habe sie gesagt: "Wir kriegen ihn". Erschwerend für den Kläger wirkt sich der Umstand aus, dass die iranischen Behörden offensichtlich über seine von ihm in Deutschland verübten Straftaten unterrichtet sind. Der Kläger hat hierzu angegeben, bei der Beantragung und Ausstellung eines neuen iranischen Passes beim iranischen Generalkonsulat sei er von dem die Sache bearbeitenden Mitarbeiter gefragt worden, ob denn die Sache schon zu Ende sei und ob er entlassen worden sei. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass der iranischen Auslandsvertretung die Verurteilung des Klägers in Deutschland bekannt war. Von besonderer Bedeutung bei der Würdigung der Gefahr einer erneuten Bestrafung im angenommenen Fall einer Rückkehr in den Iran ist ferner die Tatsache, dass der Kläger mehrfach wegen des unerlaubten Besitzes von und des Handeltreibens mit Betäubungsmitteln, jeweils in nicht geringer Menge, strafrechtlich belangt worden ist, wobei am ... 2004 durch das Landgericht Frankfurt am Main eine langjährige Freiheitsstrafe verhängt wurde. Drogendelikte werden im Iran mit besonders drastischen Strafen belegt. Seit der Verschärfung des Drogengesetzes Ende 2010 ist die Zahl der Todesurteile und der Hinrichtungen in Verbindungen mit Drogendelikten stark angestiegen. Dieser Umstand ist auch mit Blick auf eine mögliche Doppelbestrafung in den Blick zu nehmen (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.02.2014, Stand: Oktober 2013, S. 26, 34).

Der vorliegende Fall unterscheidet sich damit von demjenigen, den der Hessische Verwaltungsgerichtshof in dem dortigen Verfahren 6 A 95/10.A zu entscheiden hatte. Ausweislich der Entscheidungsgründe des in diesem Verfahren ergangenen Berufungsurteils gab es - anders als hier - zunächst keine begründeten Hinweise darauf, dass den iranischen Behörden die Straftaten des Klägers in diesem Verfahren und seine in Deutschland erfolgten strafrechtlichen Verurteilungen bekannt geworden waren. Opfer der dort in Rede stehenden Straftat war auch keine iranischer Staatsangehöriger und auch kein Muslim. Ferner standen ersichtlich keine Zeugen oder sonstige Personen zur Verfügung, auf die die iranischen Strafermittlungsbehörden bei einer Prüfung, ob ein Strafverfahren im Iran eröffnet werden soll, hätten zurückgreifen können. Im Falle des Klägers gibt es solche Personen indessen, da die Schwester der früheren Lebensgefährtin des Klägers im Iran lebt. [...]