VG München

Merkliste
Zitieren als:
VG München, Urteil vom 08.07.2015 - M 21 K 11.30881 - asyl.net: M23022
https://www.asyl.net/rsdb/M23022
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund psychischer Erkrankung und fehlender finanzieller Mittel für eine angemessene Behandlung im Senegal.

Schlagwörter: Senegal, psychische Erkrankung, erhebliche individuelle Gefahr, Krankheit, medizinische Versorgung, Posttraumatische Belastungsstörung, Finanzierbarkeit, Behandlungskosten,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Klage ist begründet, soweit die Klägerin nach ihrem Hilfsantrag Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begehrt.

Die Klägerin hat nach der im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG) einen Anspruch auf die Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich des Senegal vorliegt. Der angegriffene Bescheid des Bundesamts ist rechtswidrig, soweit er diesen Anspruch der Klägerin in Ziffer 3. nicht anerkennt, und verletzt sie daher in ihren subjektiv-öffentlichen Rechten (§ 113 Abs. 5 VwGO).

Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Maßgebend ist insoweit allein das Bestehen einer konkreten, individuellen - zielstaatsbezogenen - Gefahr für die genannten Rechtsgüter, ohne Rücksicht darauf, von wem die Gefahr ausgeht und auf welchen Ursachen sie beruht.

Ein zielstaats- - hier auf den Senegal - bezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 80 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann sich vorliegend daraus ergeben, dass die Gefahr der Verschlimmerung einer Krankheit, unter welcher der Ausländer bereits in Deutschland leidet, im Heimatstaat besteht, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind (BVerwG v. 29.10.2002, Az. 1 C 1.02, Rn. 9 bei juris). Auch für die Bestimmung dieser "Gefahr" gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, das heißt die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Eine Gefahr ist "erheblich", wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Zuständen (zum Ganzen: BVerwG v. 24.05.2006, Az. 1 B 118.05; OVG Lüneburg v. 10.11.2011, Az. 8 LB 108/10; VG Aachen v. 09.12.2013, Az. 1 K 2546/12.A; VG Bremen v. 15.07.2013, Az. 4 K 2074/10.A). Eine nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG relevante zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben kann sich trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlungsmöglichkeiten auch aus den sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Ein Abschiebungshindernis besteht daher auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG v. 29.10.2002 a.a.O.; BayVGH v. 23.11.2012, Az. 13 A B 12.30061; BayVGH v. 08.03.2012, Az. 13a B 10.30172; OVG Lüneburg v. 10.11.2011 a.a.O.).

Ein zielstaatsbezogenes, krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis kann sich auch aus einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) ergeben. Bei einer PTBS handelt es sich um ein komplexes psychisches Krankheitsbild, bei dem nicht äußerlich feststellbare objektive Befundtatsachen, sondern innerpsychische Erlebnisse im Mittelpunkt stehen. Aufgrund dieser Eigenart des Krankheitsbildes bestehen gewisse Anforderungen an ärztliches Vorgehen und Diagnostik, die nach der Rechtsprechung grundsätzlich nur von Fachärzten und Fachärztinnen für Psychiatrie oder für psychotherapeutische Medizin erfüllt werden können. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gehört angesichts der Unschärfen des Krankheitsbildes sowie seiner vielfältigen Symptome zur Substantiierung des Sachvortrags (§ 86 Abs. 1 Satz 1, Halbsatz 2 VwGO) die Vorlage eines gewissen Mindestanforderungen genügenden fachärztlichen Attests. Aus diesem muss sich nachvollziehbar ergeben, auf welcher Grundlage der Facharzt seine Diagnose gestellt hat und wie sich die Krankheit im konkreten Fall darstellt. Dazu gehören etwa Angaben darüber, seit wann und wie häufig sich der Patient in ärztlicher Behandlung befunden hat und ob die von ihm geschilderten Beschwerden durch die erhobenen Befunde bestätigt werden. Des Weiteren sollte das Attest Aufschluss über die Schwere der Krankheit, deren Behandlungsbedürftigkeit sowie den bisherigen Behandlungsverlauf (Medikation und Therapie) geben. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierende Erlebnisse im Heimatland gestützt und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (BVerwG v. 11.09.2007, Az. 10 C 8.07, BVerwGE 129, 251 ff.; BVerwG v. 11.09.2007, Az. 10 C 17.07; BVerwG v. 26.07.2012, Az. 10 B 21.12; VGH Baden-Württemberg v. 09.07.2012, Az. A 9 S 1359/12; BayVGH v. 17.10.2012, Az. 9 ZB 10.30390; VG München v. 14.02.2014, Az. M 21 K 11.30993). Den Substantiierungsanforderungen an die Geltendmachung einer PTBS kann auch dadurch genügt werden, wenn ein Befundbericht, der inhaltlich den vorgenannten Anforderungen entspricht, vorgelegt wird, auch wenn er nicht von einem Facharzt, sondern von einem Psychologischen Psychotherapeuten erstellt wurde. Denn auch der Beruf des Psychologischen Psychotherapeuten zählt mit Blick auf § 1 Abs. 1 PsychThG und Art. 60 Abs. 1 des Heilberufe-Kammergesetzes (HKaG) zu den Heilberufen (vgl. den Zulassungsbeschluss BayVGH v. 14.05.2013, Az. 13a ZB 13.30097; s. auch: VG München v. 14.02.2014, Az. M 21 K 11.30993; OVG Münster v. 19.12.2008, Az. 8 A 3053/08.A).

Das Gericht ist nach den vorliegenden eindeutigen medizinischen Feststellungen nach Aktenlage sowie den Erläuterungen der sachverständigen Zeugin in der mündlichen Verhandlung vom 4. Juli 2014, die von der Beklagtenseite (schon wegen Abwesenheit in der mündlichen Verhandlung) nicht substantiiert in Zweifel gezogen worden sind, davon überzeugt, dass die Klägerin bei einer Rückkehr binnen kurzer Zeit einer erheblichen individuellen Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ausgesetzt wäre. Wegen der drohenden Verschlechterung des psychischen Gesundheitszustands der Klägerin aufgrund der bei ihr diagnostizierten PTBS hätte eine Abschiebung in den Senegal für sie gravierende nachteilige, ihr nicht zumutbare Folgen. Hinsichtlich der Erkrankung der Klägerin - Posttraumatische Belastungsstörung nach ICD 10 F 43.1 -, der Behandlungsbedürftigkeit und der zu erwartenden Folgen für den Fall des Unterbleibens einer Behandlung oder eines vorzeitigen Behandlungsabbruchs folgt das Gericht den Feststellungen in den vorgelegten fachärztlichen Attesten sowie den Darstellungen der sachverständigen Zeugin in der mündlichen Verhandlung. Anhaltspunkte dafür, dass die dort getroffenen Feststellungen auf nicht hinreichend gesicherten Annahmen beruhen, sind nicht ersichtlich. Das Gericht geht also davon aus, dass die Klägerin an der diagnostizierten Krankheit leidet, sie einer dauerhaften und intensiven ärztlichen bzw. psychotherapeutischen Betreuung bedarf und ein Behandlungsabbruch oder eine ungenügende Versorgung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zur Folge hätte. [...]

Das Gericht ist nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass die Klägerin - wie auch die sachverständigen Zeugin dargelegt hat - aufgrund diverser Gewalterfahrungen in ihrem Heimatland eine besondere Vulnerabilität erfahren hat, wobei die dann in Deutschland erlebten besonderen Gewalterfahrungen das letztlich auslösende Moment des jetzigen psychischen Zustandes waren. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass der von der Klägerin gegenüber dem Bundesamt beschriebene Fluchtweg über einen Dirketflug Dakar - Berlin mit Hilfe eines namentlich nicht näher bekannten weißen Mannes namens "Peter", der alle Unterlagen gehabt und alles bei der Pass- und Flugkartenkontrolle für sie gemanagt habe, insgesamt recht mysteriös klingt, so dass Einiges dagegen spricht, dass sich die Ausreise aus dem Senegal und die Einreise nach Deutschland tatsächlich genau so zugetragen haben. Insofern können auch Zweifel angebracht sein, dass die Klägerin ihr Martyrium einer Zwangsprostitution tatsächlich im Haus eines (wo auch immer in Berlin lebenden) "Peter" erlebt hat. Das Gericht verkennt auch nicht, dass die Klägerin bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt ihre Erlebnisse nur sehr rudimentär und z.T. auch widersprüchlich geschildert hat Das Bundesamt hat in seinem Bescheid zu Recht darauf hingewiesen. Das Gericht geht aber davon aus, dass die Klägerin nach ihrem akuten Krankheitsbild gar nicht in der Lage war, das, was ihr passiert ist, vollständig und widerspruchsfrei vorzutragen. Das Gericht ist aufgrund diverser Indizien insgesamt jedenfalls davon überzeugt, dass die Klägerin im zeitlichen Zusammenhang mit ihrer Einreise bzw. ihrem Aufenthalt in Deutschland unmittelbar vor Stellung ihres Asylantrags erheblicher und brutaler sexueller Gewalt ausgesetzt war, die der Letztauslöser für die diagnostizierte Traumatisierung im jetzigen Zustand war. Neben den nachvollziehbaren Ausführungen der sachverständigen Zeugin ist hier zum einen die aktenkundlich belegte Analverletzung zu nennen, die nach den bekundeten Erfahrungen der sachverständigen Zeugin eine typische Verletzung bei gewaltsamem Sexualverkehr darstellt. Zum anderen ist für das Gericht aufgrund des persönlichen - d.h. in sich gekehrten, abwesenden - Eindrucks von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung, der zur Überzeugung des Gerichts nicht geschauspielert war, der Vortrag der sachverständigen Zeugin nachvollziehbar, dass die Klägerin nicht in der Lage war und auch weiterhin nicht ist, gegenüber Dritten (d.h. außerhalb des bestehenden Therapie- und Vertrauensverhältnisses zur Therapeutin) über Einzelheiten der erfahrenen Gewalt zu sprechen. Dies macht auch zumindest erklärbar, warum die Klägerin von einer Anzeige der Täter bei der Polizei abgesehen hat.

Unabhängig von der Frage, inwiefern die Rückkehr in den Senegal zu einer Retraumatisierung führen würde und inwiefern ein Abbruch gerade der aktuellen Therapie bei der sachverständigen Zeugin aufgrund eines langsam aufgebauten Vertrauensverhältnisses zu einem bedenklichen Rückschritt führen würde, ist das Gericht jedenfalls davon überzeugt, dass es der Klägerin nicht möglich sein würde, die erforderlichen Mittel für eine angemessene Behandlung ihres psychischen Leidens auf Dauer aufzubringen, sollte sie in den Senegal zurückkehren müssen. Es ist offenkundig, dass angesichts des Krankheitsbildes eine adäquate Versorgung im Senegal mit hohen Kosten verbunden wäre. Trotz gut ausgebildeter Ärzte ist das staatliche senegalesische Gesundheitssystem unzureichend, weil Patienten Medikamente, Operationen und Krankenhausaufenthalte selbst finanzieren müssen. Dies verursacht vor allem Probleme bei chronischen Erkrankungen. Häufig muss in solchen Fällen die gesamte erweiterte Familie für die Behandlungskosten aufkommen (was speziell bei der Klägerin aufgrund des gestörten Verhältnisses zu ihrer Familie von vornherein ausscheidet). Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung hat keinen Zugang zu parallel existierenden privaten Dienstleistern, die befriedigende Leistungen erbringen, aber für sie viel zu teuer sind. Das Angebot an meist aus Frankreich importierten Medikamenten ist umfassend. Obwohl wesentlich preiswerter als in Europa, sind die Medikamente für die große Bevölkerungsmehrheit kaum erschwinglich bzw. nicht über einen längeren Zeitraum finanzierbar. Es íst davon auszugehen, dass auf den Märkten eine Vielzahl gefälschter Medikamente zirkuliert. Die Frage, ob und in welchem Umfang langjährige Behandlungen im Senegal durchgeführt werden können, muss von Fall zu Fall beantwortet werden. Grundsätzlich gilt, dass eine umfangreiche medizinische Behandlung mit relativ hohen Kosten und langen Wartezeiten verbunden ist. In vielen Fällen ist eine fachgerechte Behandlung nicht garantiert (siehe dazu Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 11.09.2013 mit Stand September 2013, S. 15, Nr. IV 1).

Nach alledem muss davon ausgegangen werden, dass die Klägerin - die nicht auf die Unterstützung ihrer Familie zurückgreifen könnte und zudem auch aufgrund ihrer psychischen Krankheit kaum in der Lage sein dürfte, im Senegal die Geldbeträge für eine notwendige Behandlung zu erwirtschaften - im Falle einer Rückkehr in den Senegal keine ausreichende medizinische Versorgung erlangen könnte und eine alsbaldige wesentliche Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu befürchten wäre. Die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen daher vor. [...]