VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 14.10.2014 - 6 K 1366/13.WI.A - asyl.net: M23026
https://www.asyl.net/rsdb/M23026
Leitsatz:

Feststellung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bei psychiatrischer Erkrankung und begrenzten Behandlungskapazitäten in Sri Lanka.

Schlagwörter: Sri Lanka, psychische Erkrankung, erhebliche individuelle Gefahr, Abschiebungsverbot, chronische Schizophrenie, Schizophrenie, Diabetes mellitus, Krankheit, Posttraumatische Belastungsstörung, medizinische Versorgung, Verschlechterung, chronische Erkrankung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die Beklagte ist verpflichtet, beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen, Danach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Das ist im Falle der Abschiebung des Klägers nach Sri Lanka der Fall.

Der Kläger leidet seit langer Zeit an einer chronischen Schizophrenie. Hinzugekommen ist eine insulinpflichtige Diabetes Mellitus, daneben besteht ein Angstsyndrom im Sinne der posttraumatischen Belastungsreaktion (vgl. zuletzt etwa das vom Gericht eingeholte Gutachten des Dr. med. ... vom 26.06.2014, Seite 26 f.). Der Gutachter geht, wie auch das Gericht, davon aus, dass diese Erkrankungen im Grundsatz im Sri Lanka behandelbar sind.

Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis kann sich aber auch trotz an sich verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen im Zielstaat ergeben, die dazu führen, dass der Betroffene diese medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikamentation zwar allgemein zur Verfügung steht, den betroffenen Ausländer individuell, jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist.

Aufgrund der spezifischen Ausprägungen der mehreren nebeneinander vorliegenden Erkrankungen des Klägers und aufgrund seiner individuellen Situation besteht die konkrete Gefahr einer erheblichen Verschlechterung seines Gesundheitszustandes im Falle einer Rückkehr nach Sri Lanka. Dies würde sich alsbald nach der Rückkehr zeigen.

Der Gutachter hat festgestellt, dass das komplexe Krankheitsgeschehen nicht im engeren Sinne geheilt werden könne, weil es sich sowohl in psychischer als auch somatischer Hinsicht um chronische Erkrankungen handelt. Der Kläger benötige 24 Stunden am Tag fachpsychiatrische Betreuung (Gutachten, Blatt 28).

In einem vergleichbaren Fall hat das OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 31.10.2007 - 21 A 631.A - u.a. ausgeführt:

"Das bedeutet, dass die Gefahr eines Rückfalls um so größer ist, je schlechter die psychiatrische Behandlung ist. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Umstände einer Behandlung des Klägers in Sri Lanka aller Voraussicht nach eher ungünstig sein würden. Nicht nur nach dem bereits zitierten Gutachten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, sondern auch nach den Auskünften des Auswärtigen Amtes sind die Behandlungskapazitäten für psychiatrisch Erkrankte in Sri Lanka begrenzt. Nach der Auskunft der Deutschen Botschaft in Colombo vom 31. Mai 2002 an die Stadt Moers - Rk 516.80/6 LKA - ist psychiatrisches Fachpersonal nur in den psychiatrischen Kliniken der General Hospitals und in dem psychiatrischen Krankenhaus Angoda vorhanden. In den Base Hospitals und den District Hospitals sei kein psychiatrisches Fachpersonal verfügbar. Die Behandlung entsprechender Erkrankungen erfolge dort durch Allgemeinmediziner, so auch die Verschreibung bzw. Verabreichung entsprechender Medikamente. Aufgrund der knappen Kapazitäten könne es durchaus sein, dass eine Behandlung bzw. Nachsorge in diesen Krankenhäusern erfolgen müsse. Diese Umstände erhöhen die Gefahr, dass der Kläger bei der Umstellung der Medikamente einen Rückfall erleidet. Diese Gefahr ist auch zielstaatsbezogen, denn sie beruht auf den Verhältnissen in Sri Lanka. Ihr kann nicht durch besondere Fürsorge bei der Abschiebung selbst begegnet werden. Auch wenn dem Kläger, wie dies zugesagt ist, Medikamente für ein Jahr mitgegeben werden und wenn die Möglichkeit einer Weiterbehandlung im Anschluss an die Abschiebung geregelt wird, müsste innerhalb eines Jahres eine Umstellung auf die in Sri Lanka nicht dauerhaft erhältlichen Medikamente erfolgen. Der Gefahr einer Exazerbation wäre damit nicht gebannt, sondern nur für eine gewisse Zeit aufgeschoben.

Hinzu kommt, dass nach dem Gutachten des Dr. S. vom 25. Oktober 2002 der Kläger auch auf soziotherapeutische Hilfen angewiesen ist und nur in einem beschützten Rahmen leben kann. Er ist nach dem Gutachten nicht in der Lage, sein Umfeld real wahrzunehmen, seine Aufgaben zu erledigen, zu arbeiten und sich selbst zu versorgen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass der Kläger ohne zuverlässige Hilfe Dritter nicht in der Lage wäre, bei einer Rückkehr nach Sri Lanka die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen. Dies beinhaltet das Risiko eines Rückfalls. Das gilt nicht nur für die Zeit unmittelbar nach einer etwaigen Abschiebung, für die ggf. die Ausländerbehörde die notwendigen Verkehrungen treffen könnte und müsste. Vielmehr wird der Kläger auf Dauer medizinische Versorgung benötigen, die er sich nicht selbständig verschaffen kann. Ebenso wenig wird der Kläger in der Lage sein, sich allein ein Obdach zu besorgen und seinen Lebensunterhalt selbst zu beschaffen. Es ist nicht hinreichend gesichert, dass der Kläger die demnach in Sri Lanka nicht nur vorübergehend im Anschluss an eine Abschiebung, sondern auf Dauer benötigte Hilfe erhalten wird. Vom srilankischen Staat wird die notwendige Betreuung nicht zur Verfügung gestellt. Nach der Auskunft der Deutschen Botschaft in Colombo vom 7. Oktober 2003 an das Verwaltungsgericht Anisberg - RK -30- 516.50 SE - handelt es sich bei den o.g. Kliniken und auch bei dem psychiatrischen Krankenhaus Angoda nicht um Einrichtungen, in denen eine Dauerunterbringung möglich ist. Die Pflege hilfsbedürftiger Personen werde in Sri Lanka traditionsgemäß durch die Familien eines Betroffenen durchgeführt und organisiert. Ein System etwa staatlicher Betreuungseinrichtungen oder Heime über den Rahmen rein medizinischer Versorgung hinaus sei in Sri Lanka nicht vorhanden."

Der Kläger hat in Sri Lanka niemanden, der ihm die notwendige Unterstützung zuteil kommen lassen könnte. Das gilt insbesondere für die betagten Eltern des Klägers, die mit dem erforderlichen fachpsychiatrischen Betreuungsaufwand ohnehin überfordert wären.

Im Falle einer Rückkehr nach Sri Lanka würde zeitnah für den Kläger eine lebensbedrohliche Situation entstehen. Innerhalb von Tagen bis Wochen prognostiziert der Gutachter eine Verschlechterung des Krankheitsbildes um 100 %. Eine weitere erhebliche Verschlechterung würde sich anschließen. Als Folgen zeigt der Gutachter auf Dekompensation der bekannten Psychose mit sozialer Desintegration, Verwahrlosung, Impulskontrollverlust und mögliche Fremdaggressivität, akute Hyperglykämie bis hin zum diabetischen Koma, Entgleisung des Wasser- und Elektrolythaushaltes, mittelfristige schwerste Gefäßschäden (z.B. Schlaganfall, Herzinfarkt, Niereninsuffizienz). [...]