OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Urteil vom 25.06.2015 - 11 LB 248/14 - asyl.net: M23037
https://www.asyl.net/rsdb/M23037
Leitsatz:

1. In Italien liegen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber vor, aufgrund derer einem im Dublin-Verfahren rücküberstellten Asylbewerber die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung droht.

2. Ein alleinstehender junger Mann gehört grundsätzlich nicht zu den besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urt. v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12 - Tarakhel/Schweiz), deren Rücküberstellung eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden hinsichtlich der Unterbringung erfordert.

3. Ein Asylbewerber kann sich nicht auf den Übergang der Zuständigkeit aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist berufen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: systemische Mängel, Italien, Asylverfahren, Aufnahmebedingungen, Dublinverfahren, Garantieerklärung, Zusicherung, Tarakhel, Überstellungsfrist, Dublin II-VO,
Normen: AsylVfG § 27a, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 2, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 1 Bst. d,
Auszüge:

[...]

Der Senat geht bei der Bewertung des Asyl- und Aufnahmesystems in Italien von folgenden Feststellungen aus: Zuständig für die erste Unterbringung von Asylbewerbern sind in Italien die sogenannten CARA (Centri di Accoglienza per Richiedenti Asilo), in denen die Aufenthaltsdauer offiziell auf 35 Tage begrenzt ist, jedoch in der Praxis häufig auf bis zu sechs Monate verlängert wird. Daneben bestehen Unterbringungseinrichtungen des sogenannten SPRAR (Sistema di Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugati), in denen sich Asylsuchende, die nicht in CARA wohnen müssen, bis zur Entscheidung aufhalten. Dort kann die Aufenthaltsdauer um bis zu sechs Monate, bei Vorliegen besonderer Schutzbedürftigkeit um bis zu elf Monate verlängert werden. Ein Mangel des Aufnahmeverfahrens in Italien liegt darin, dass die Asylsuchenden im Regelfall erst dann eine Unterkunft erhalten, wenn ihr Asylantrag offiziell registriert worden ist (sog. Verbalizzazione). Dies kann insbesondere in großen Städten einige Tage, Wochen oder gelegentlich sogar Monate dauern Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 23.4.2015 an VG Schwerin; UNHCR, Bericht vom Juli 2013; Auswärtiges Amt, Auskunft an OVG Nordrhein-Westfalen vom 11.9.2013). Während dieser Zeit sind die Asylsuchenden nicht immer hinreichend vor Obdachlosigkeit geschützt. Es gibt allerdings keine Statistiken darüber, wie viele Asylbewerber von diesem Problem tatsächlich betroffen sind. Die italienischen Behörden haben außerdem mit der Einführung eines neuen Informationssystems (Vestanet) Maßnahmen ergriffen, um diese Situation zu verbessern und die zeitliche Lücke zwischen Asylgesuch und Verbalizzazione zu verringern (zum Vorstehenden: Europäischer Rat für Flüchtlinge und im Exil lebende Personen (ECRE), AIDA - Asylum Information Database, Länderbericht zu Italien vom Januar 2015 - AIDA-Länderbericht vom Januar 2015 -, S. 18 und S. 51). Soweit in Rom immer noch eine zeitliche Lücke von mehreren Monaten bestehen soll, ist die Unterbringungslage dadurch entschärft worden, dass sich Asylsuchende dort vor der Verbalizzazione auf eine Warteliste für einen Platz in einem Zentrum der Gemeinde setzen lassen können und diesen nach etwa einem Monat auch erhalten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft vom 23.4.2015 an VG Schwerin). Weiterhin stehen Dublin-Rückkehrern an den italienischen Hauptflughäfen Nichtregierungsorganisationen (NGO) zur Seite, die sie bei Bedarf betreuen und sich um eine Unterkunft bemühen. Außerdem sind im Bereich der Flughäfen Einrichtungen ausschließlich für Dublin-Rückkehrer geschaffen worden, die vom Europäischen Flüchtlingsfonds (italienisch: Fondo europeo per i rifugiati - FER-) finanziert werden und in denen von den Flughafen-NGOs vermittelte Dublin-Rückkehrer vorübergehend untergebracht werden können. Aktuell werden 11 solcher Einrichtungen mit 443 Plätzen betrieben (AIDA-Länderbericht vom Januar 2015, S. 59; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Informationen der Staatendokumentation zu Italien, S. 20 ff.).

Bei der Unterbringung von Asylbewerbern in Italien kommt es zwar nach wie vor zu Kapazitätsengpässen, wobei sich zuverlässige Belegungszahlen allerdings nur schwer ermitteln lassen, da diese nicht nur von zur Verfügung stehenden Unterkunftsplätzen, sondern auch von der nicht vorhersehbaren Verweildauer der Asylbewerber in der Einrichtung und kurzfristig auftretenden Flüchtlingsströmen in der EU beeinflusst werden. Der italienische Staat hat sich aber mit Erfolg bemüht, die Unterbringungskapazitäten den jeweiligen Belastungssituationen anzupassen. Wie sich aus dem AIDA-Länderbericht vom Januar 2015 ergibt, standen am 29. Dezember 2014 in den CPSA/CDA/CARA 9.592 Plätze und in den SPRAR 19.900 Plätze zur Verfügung. Damit sind die staatlichen Unterkunftsplätze bereits erheblich aufgestockt worden (im Vergleich dazu 2012: insg. 8.000 Plätze in den CARA und SPRAR, siehe UNHCR, Auskunft vom 24.4.2012 an VG Braunschweig). Nach dem AIDA-Länderbericht vom Januar 2015 sind die verfügbaren Plätze zur Unterbringung aber noch immer nicht ausreichend, um alle Migranten und Asylbewerber aufzunehmen, so dass die CARA und die Erstaufnahmezentren - CPSA - oft überfüllt sind (S. 59). Während die CARA über eine Aufnahmekapazität von 7.866 Plätzen verfügen, waren dort Ende letzten Jahres 9.071 Asylsuchende untergebracht (S. 59). Diese Überbelegung zeigt aber auch, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig ist, sondern dass sie unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten und deshalb nicht vollkommen schutzlos auf sich selbst gestellt sind. Weiter ergibt sich aus dem AIDA-Länderbericht vom Januar 2015, dass Italien die Unterbringungssituation nicht tatenlos hinnimmt, sondern in den letzten Monaten weitere Unterbringungsformen eingerichtet hat, um auf die hohe Zahl an Bootsflüchtlingen zu reagieren. So sind in verschiedenen Regionen Italiens zusätzliche Aufnahmezentren (CAS -Temporary or emergency accommodation system) geschaffen worden, auf die die Flüchtlinge nach einem bestimmten Schlüssel verteilt werden und in denen Ende letzten Jahres 34.991 Flüchtlinge untergebracht waren (S. 12, 61). Dies zeigt, dass Italien in ganz erheblichem Umfang kurzfristig zusätzliche Unterkunftsplätze einrichten und zur Verfügung stellen will und kann, wenn der Zustrom von Flüchtlingen dies erfordert. Hinzu kommt ein Netzwerk an privaten Unterbringungsmöglichkeiten, welches nicht Teil des staatlichen Aufnahmesystems ist, und über das keine Zahlen vorliegen (AIDA-Länderbericht vom Januar 2015, S. 62). Insofern lässt auch der Anstieg der Zahl der Asylerstanträge im Jahr 2014 auf über 64.000 gegenüber 26.000 im Jahr 2013 (Quelle: Eurostat) nicht darauf schließen, dass Italien mit der Unterbringung der Flüchtlinge überfordert ist.

Vor diesem Hintergrund ist nach Auffassung des Senats davon auszugehen, dass trotz der nach wie vor bestehenden Kapazitätsengpässe zwischen den vorhandenen und den erforderlichen Plätzen jedenfalls kein so großes Missverhältnis besteht, dass eine Unterbringung von Dublin-Rückkehrern in Italien typischerweise nicht möglich wäre. Vielmehr droht auch Dublin-Rückkehrern in Italien grundsätzlich nicht die Gefahr monatelanger Obdachlosigkeit oder fehlender Versorgung, so dass systemische Mängel des italienischen Asyl- und Aufnahmesystems nicht vorliegen (vgl. auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 24.4.2015 - 14 A 2356/12.A -, juris, Rn. 31).

Eine andere Beurteilung ist auch nicht aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4. November 2014 (- Nr. 29217/12 - Tarakhel / Schweiz, HUDOC, NVwZ 2015, 127) geboten. In dieser Entscheidung hat der EGMR herausgestellt, dass bei einer Überstellung nach den Dublin-Regeln die Vermutung, dass der aufzunehmende Mitgliedstaat Art. 3 EMRK beachtet, wirksam widerlegt werden kann, wenn es nachweislich ernsthafte Gründe für die Annahme gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmestaat einer gegen diese Vorschrift verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Der Grund für die Gefahr sei für den Umfang des von der Konvention garantierten Schutzes unerheblich. Er entbinde den die Überstellung anordnenden Staat nicht davon, die Lage des Betroffenen sorgfältig und auf seine Person ausgerichtet zu prüfen und die Überstellung auszusetzen, wenn die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nachgewiesen sei. Es sei also zu prüfen, ob angesichts der allgemeinen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien und der besonderen Lage der Beschwerdeführer nachweislich ernsthafte Gründe für die Annahme bestünden, dass sie im Fall der Überstellung nach Italien Gefahr liefen, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden (EGMR, Urt. v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12 -, a.a.O., Rn. 104 f.). Maßgebend ist danach die tatsächliche Gefahr einer Menschenrechtsverletzung, ohne dass es auf die Ursache ankommt, so dass eine Verletzung des Art. 3 EMRK nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls auch dann geltend gemacht werden kann, wenn keine systemischen Mängel des Asyl- und Aufnahmesystems vorliegen. Der EGMR folgt damit einem Urteil des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs (UK Supreme Court) vom 19. Februar 2014, nach dessen Auffassung eine Verletzung des Art. 3 EMRK nicht von dem Versagen eines Systems abhängen könne. In seiner Entscheidung kommt der EGMR bei der Beurteilung der allgemeinen Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien auf der Grundlage von Empfehlungen und Berichten des UNHCR, des Kommissars für Menschenrechte des Europarats und der Schweizer Flüchtlingshilfe aus den Jahren 2012 und 2013 sowie den Angaben der italienischen und der Schweizer Regierung im Verfahren zu dem Ergebnis, dass in Italien ein flagrantes Missverhältnis ("glaring discrepancy") zwischen der Zahl der 2013 gestellten Asylanträge, die sich nach den Angaben der italienischen Regierung am 15. Juni 2013 bereits auf 14.184 belief, und den 9.630 Plätzen in SPRAR-Einrichtungen bestehe (EGMR, Urt. v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12 -, a.a.O., Rn. 110). Diese Lage könne aber keinesfalls mit der in Griechenland zur Zeit seines Urteils M.S.S./Belgien und Griechenland (Urt. v. 21.1.2011 - Nr. 30696/09 -, a.a.O.) verglichen werden, in dem festgestellt worden sei, dass die Aufnahmeeinrichtungen nur über 1.000 Plätze verfügten bei zehntausenden Asylanträgen und dass die von dem dortigen Beschwerdeführer beschriebene absolute Notlage ein weitverbreitetes Phänomen sei (Rn. 114). Struktur und allgemeine Lage der Aufnahme in Italien allein verhinderten also nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern in dieses Land, die erwähnten Tatsachen und Informationen begründeten aber ernstliche Zweifel an der jetzigen Kapazität des Systems. Danach könne die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Zahl von Asylbewerbern keine Unterkunft finde oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder sogar in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht werde (EGMR, Urt. v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12 -, a.a.O., Rn. 115). Der EGMR hat dann weiter die individuelle Lage der Beschwerdeführer, einer Familie mit sechs Kindern, vor dem Hintergrund ihrer konkreten Schutzbedürftigkeit betrachtet und sich damit befasst, ob und wie Obdachlosigkeit und die mit einer nicht ausreichenden Unterbringung verbundene Gefahr einer Familientrennung rechtlich zu bewerten seien. Dabei ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass Art. 3 EMRK verletzt würde, wenn die Beschwerdeführer nach Italien zurückgeführt werden, ohne dass die schweizerischen Behörden zuvor individuelle Garantien von den italienischen Behörden erlangt haben, dass die Beschwerdeführer in Einrichtungen und unter Bedingungen untergebracht werden, die dem Alter der Kinder angemessen sind, und dafür, dass die Familieneinheit erhalten bleibt (EGMR, Urt. v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12 -, a.a.O., Rn. 119 ff.). Eine solche Sicherstellung fordert für den Fall der Überstellung von Familien mit Neugeborenen oder Kleinstkindern nach Italien auch das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 17.9.2014 - 2 BvR 732/14 -, juris, Rn. 16).

Dem Urteil des EGMR vom 4. November 2014 kann nach Auffassung des Senats nicht entnommen werden, dass der EGMR aufgrund der bestehenden Kapazitätsengpässe von systemischen Mängeln des Asyl- und Aufnahmesystems in Italien ausgeht und eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK nur dann ausgeschlossen werden kann, wenn die italienischen Behörden eine Garantieerklärung abgeben, dass der Betroffene eine Unterkunft erhält und seine elementaren Bedürfnisse gedeckt sind (so aber: VG Hannover, Beschl. v. 22.12.2014 - 10 B 11507/14 -, juris; Beschl. v. 29.1.2015 - 3 B 13203/14 -, juris; Beschl. v. 23.4.2015 - 3 B 2129/15 -, juris). Denn der EGMR hat aus der Feststellung, dass ein Missverhältnis zwischen zur Unterbringung von Asylbewerbern benötigten und zur Verfügung stehenden Plätzen besteht, nicht die Schlussfolgerung gezogen, dass alle Asylbewerber durch die unsichere Unterbringungssituation ohne individuelle Zusicherung der italienischen Behörden eine Verletzung von Art. 3 EMRK zu befürchten haben. Zwar hat der EGMR auf seine Rechtsprechung verwiesen, nach der Asylsuchende als besonders unter - privilegierte und verletzliche Gruppe speziellen Schutz bedürfen (EGMR, Urt. v. 4.11.2014 - Nr. 29217/12 -, a.a.O., Rn. 118 m.w.N.). Er hat in seiner Entscheidung aber darauf abgestellt, dass Kinder, auch wenn sie als Asylbewerber von ihren Eltern begleitet würden, besondere Bedürfnisse hätten und extrem verwundbar seien, so dass der besondere Schutz für Asylbewerber für sie besonders wichtig sei und andernfalls die Schwere erreicht werde, die für einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK erforderlich sei (EGMR, Urt. v. 4.11.2014, - Nr. 29217/12 -, a.a.O., Rn. 119). Entscheidend ist damit immer der individuelle Fall. Dementsprechend hat der EGMR mit Beschluss vom 13. Januar 2015 (- Nr. 51428/10 - A.M.E./Niederlande, Asylmagazin 2015, 74) die Beschwerde eines Antragstellers gegen eine Überstellung nach Italien mit der Begründung abgelehnt, dass dieser zwar als Asylsuchender und damit als besonders schutzbedürftig angesehen werden müsse, die Situation eines alleinstehenden jungen Mannes in Italien aber nicht mit der Situation im Fall Tarakhel verglichen werden könne, wo es um eine Familie mit sechs minderjährigen Kindern gegangen sei.

Dass der Kläger zu dem Kreis von besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne der Rechtsprechung des EGMR gehört, ist nicht ersichtlich. Bei ihm handelt es sich wie in dem vom EGMR mit Beschluss vom 13. Januar 2015 entschiedenen Fall um einen ledigen jungen Mann, der nicht einer besonders gefährdeten Personengruppe angehört. [...]