VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 13.07.2015 - 9a L 1407/15.A - asyl.net: M23070
https://www.asyl.net/rsdb/M23070
Leitsatz:

1. In einem Fall, in dem nur eine von mehreren Sachverhaltsalternativen die Anordnung der Abschiebung nach Italien rechtfertigt, geht die Interessenabwägung bis zur Klärung des Sachverhalts zu Lasten der Antragsgegnerin.

2. Dies gilt auch dann, wenn ein ersuchter Mitgliedstaat binnen der Frist des § 25 Abs. 2 Dublin III-VO keine Antwort erteilt und deshalb davon auszugehen ist, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird und daraus die Verpflichtung erwächst, den Asylbewerber aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Sachverhaltsalternative, Interessenabwägung, Italien, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Frist, Wiederaufnahmeersuchen, Übernahmeersuchen, Wiederaufnahmegesuch, Zustimmungsfiktion,
Normen: VO 604/2013 Art. 25 Abs. 2, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem solchen Fall prüft die Antragsgegnerin den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG).

Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (im Folgenden: Dublin III-VO).

Das Bundesamt geht in rechtlich zu beanstandender Weise davon aus, dass nach derzeitigem Sach- und Streitstand definitiv Italien für die Durchführung des Asylverfahrens der Antragstellerin zuständig ist. Vielmehr erweist sich die Rechtmäßigkeit der in der Hauptsache angefochtenen Abschiebungsanordnung nach derzeitigen Sach- und Streitstand als ungewiss. Denn es kann zur Zeit nicht festgestellt werden, dass eine Pflicht Italiens zur Rückübernahme der Antragstellerin besteht. Der Eurodac-Treffer weist auf einen im Jahr 2005 in Italien gestellten Asylantrag hin. Was aus diesem Asylverfahren geworden ist, ist unbekannt. Die Antragsgegnerin geht davon aus, dass die Antragstellerin irgendwann nach 2005 wieder nach Nigeria zurückgekehrt ist und sich im Februar 2011 erneut auf die Reise über Niger und Libyen nach Italien gemacht hat. Dort will sie sich dann allerdings nach eigenen Angaben für 2,5 Jahre aufgehalten haben, wohl ohne ein neues Asylverfahren betrieben zu haben. Damit wäre die die Zuständigkeit Italiens beendende einjährige Frist des Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO überschritten.

Soweit das Bundesamt diese Probleme im angefochtenen Bescheid indirekt selbst anspricht, in dem es auf die mögliche Unzulässigkeit des Asylantrags aufgrund von § 60 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 2 AufenthG hinweist, übersieht es, dass hierauf keine – im vorliegenden Verfahren allein relevante – Anordnung einer Abschiebung nach Italien gestützt werden kann. Gleiches gilt für die vom Bundesamt unterstellte Prämisse, der im Jahr 2005 in Italien gestellte Asylantrag der Antragstellerin habe nicht zur Zuerkennung von internationalem Schutz geführt und die Bundesrepublik Deutschland sei für die Prüfung des neuen Asylantrags zuständig. Insoweit geht das Bundesamt zwar zutreffend davon aus, dass daraus nicht zwingend ein Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens erwächst. Aber die Anordnung einer Abschiebung nach Italien schiede dann wohl ebenfalls aus.

In einem Fall, in dem nur eine von mehreren Sachverhaltsalternativen die Anordnung der Abschiebung nach Italien rechtfertigt, geht die Interessenabwägung bis zur Klärung des Sachverhalts zu Lasten der Antragsgegnerin. Dies gilt auch dann, wenn ein ersuchter Mitgliedstaat binnen der Frist des § 25 Abs. 2 Dublin III-VO keine Antwort erteilt und deshalb davon auszugehen ist, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wird und daraus die Verpflichtung erwächst, den Asylbewerber aufzunehmen und angemessene Vorkehrungen für die Ankunft zu treffen. Denn aufgrund dieser Fiktion kann nicht unterstellt werden, dass das Wiederaufnahmegesuch tatsächlich geprüft, geschweige denn der dem Wiederaufnahmegesuch seitens des Bundesamtes unterstellte, eine Abschiebung in den ersuchten Mitgliedstaat rechtfertigende Sachverhalt durch den ersuchten Mitgliedstaat bestätigt wird. [...]