VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 19.05.2015 - 6a K 2710/14.A - asyl.net: M23078
https://www.asyl.net/rsdb/M23078
Leitsatz:

Die Bedrohung durch eine Gruppe besonders religiös eingestellter Jesiden und strenggläubiger Familienangehöriger wird durch die gerichtlichen Erkenntnisse über das Jesidentum bestätigt. Die Loyalität zur Familie und zur eigenen Religionsgemeinschaft sowie die Achtung grundlegender religiöser Vorgaben der traditionellen jesidischen Gemeinschaft spielen eine große Rolle; abweichendes Verhalten eines Jesiden kann zu ernsthaften Konsequenzen führen.

Schlagwörter: Georgien, Yeziden, Konvertiten, Christen, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzfähigkeit,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

Es obliegt dem Schutz vor Verfolgung Suchenden, die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft glaubhaft zu machen. Er muss in Bezug auf die in seine eigene Sphäre fallenden Ereignisse und persönlichen Erlebnisse eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, seinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lückenlos zu tragen. Ein in diesem Sinne schlüssiges Schutzbegehren setzt im Regelfall voraus, dass der Schutz Suchende konkrete Einzelheiten seines individuellen Verfolgungsschicksals vorträgt und sich nicht auf unsubstantiierte allgemeine Darlegungen beschränkt. Er muss nachvollziehbar machen, wieso und weshalb gerade er eine Verfolgung befürchtet. An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es regelmäßig, wenn er im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheinen oder er sein Vorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere, wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgebend bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst spät in das Asylverfahren einführt (vgl. zu alledem nur OVG NRW, Urteil vom 2. Juli 2013 - 8 A 2632/06.A -, juris, mit weiteren Nachweisen).

Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft im Falle des Klägers vor. Das Gericht geht davon aus, dass dem Kläger und seiner Familie bei einer Rückkehr nach Georgien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylVfG droht.

Denn bereits vor ihrer Ausreise aus Georgien ist die Familie des Klägers Opfer von gravierenden Übergriffen gewesen, bei denen Leib und Leben der einzelnen Familienmitglieder ernsthaft gefährdet waren; der Kläger selbst und sein Sohn S. sind bei dem letzten Vorfall, bei dem das Haus der Familie überfallen und in Brand gesetzt worden ist, sogar gravierend verletzt worden. Dass die Vorfälle sich im Wesentlichen so zugetragen haben, wie von dem Kläger, seiner Frau und den beiden volljährigen Kindern in der mündlichen Verhandlung gegenüber dem Gericht geschildert, steht zur Überzeugung des Gerichts fest. Der Einzelrichter hat alle vier Personen eingehend und unabhängig voneinander über einen Zeitraum von insgesamt annähernd fünf Stunden hinweg befragt. Größere Widersprüche oder Ungereimtheiten sind dabei nicht zutage getreten. Die einzelnen Familienmitglieder – insbesondere die besonders ausführlich befragten Eltern – haben lebendig und detailreich von den maßgeblichen Vorgängen berichtet und ihre Befürchtungen nachvollziehbar dargelegt. Auch von den gegenüber dem Bundesamt abgegebenen Erklärungen weicht der Vortrag des Klägers und seiner Familie im gerichtlichen Verfahren nicht wesentlich ab. Dass die Ausführungen in dem Bescheid vom 2. Juni 2014 zu einem vermeintlichen Täuschungsversuch betreffend die Staatsangehörigkeit des Klägers und den Nachnamen seiner Tochter die Kammer nicht überzeugen, ist bereits in ihrem Beschluss vom 1. Juli 2014 (6a L 909/14.A) erläutert worden.

Die geltend gemachte Bedrohung durch eine Gruppe besonders religiös eingestellter Jesiden und den dem kriminellen Milieu zuzurechnenden, ebenfalls strenggläubigen Bruder der ersten Ehefrau des Klägers ist auch nicht von vornherein unvereinbar mit den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen über das Jesidentum. Dass die Loyalität zur Familie und zur eigenen Religionsgemeinschaft sowie die Achtung der grundlegenden religiösen Vorgaben in der traditionellen jesidischen Gemeinschaft eine große Rolle spielen und abweichendes Verhalten unter Umständen ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen kann, ist nicht von der Hand zu weisen (vgl. dazu auch VG Aachen, Urteil vom 21. Februar 2013 - 8 K 738/10.A -, juris, mit Nachweisen zur Erkenntnislage).

Lässt sich somit eine Vorverfolgung des Klägers und seiner Familie in ihrem Heimatland feststellen, so bedürfte es stichhaltiger Gründe dafür, dass von einem Fortbestand der Bedrohungssituation im Falle der Rückkehr nach Georgien nicht mehr auszugehen ist. Derartige Gründe sind weder vom Bundesamt benannt worden, noch sonst ersichtlich.

Hintergrund der von dem Kläger und seiner Familie erlittenen Übergriffe und der nach wie vor bestehenden Bedrohung ist ihr Wechsel vom Jesidentum zur christlich-orthodoxen Kirche. Die Verfolgung knüpft damit an die religiöse Überzeugung, also an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 AsylVfG genannten Merkmale "politischer Verfolgung" an.

Die Bedrohung geht dabei von einem nichtstaatlichen Akteur im Sinne von § 3c Nr. 3 AsylVfG aus, nämlich der von dem Kläger und seiner Familie beschriebenen Gruppe von streng religiösen Jesiden, zu denen auch der Bruder der ersten Ehefrau des Klägers, ..., zählt. Dass der georgische Staat nicht grundsätzlich willens ist, Schutz gegen Übergriffe dieser Gruppe zu gewähren, wird man zwar nicht annehmen können, zumal die georgisch-orthodoxe Kirche nach den vorliegenden Auskünften über die Lage in Georgien einen erheblichen Einfluss auf das staatliche Handeln hat. Angesichts der zwischen den Jesiden in Georgien untereinander bestehenden engen Vernetzung, der Kontakte des Bruders der ersten Ehefrau des Klägers in das kriminelle Milieu und der sonstigen besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles dürfte der georgische Staat aber letztlich nicht in der Lage sein, effektiven Schutz gegen die aufgezeigte Bedrohung zu leisten.

Die vorgenannten Umstände führen zudem dazu, dass ein interner Schutz im Sinne von § 3e AsylVfG nicht angenommen werden kann. Selbst wenn man unterstellt, dass der Kläger und seine Familie in einem anderen Teil Georgiens eine auskömmliche Existenz finden könnten, lassen die geographische Überschaubarkeit Georgiens, die Anzahl und intensive Vernetzung der dort lebenden Jesiden und die Beziehung des Bruders der ersten Ehefrau des Klägers in das kriminelle Milieu die Bedrohung in Georgien als allgegenwärtig erscheinen. [...]