VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 21.07.2015 - 3 A 626/14 (= ASYLMAGAZIN 10/2015, S. 342 f.) - asyl.net: M23092
https://www.asyl.net/rsdb/M23092
Leitsatz:

Zuerkennung subsidiären Schutzes wegen der Gefahr eines ernsthaften Schadens aufgrund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts in Somalia.

Schlagwörter: Somalia, Sprachgutachten, Sprachanalyse, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, subsidiärer Schutz, ernsthafter Schaden, erhebliche individuelle Gefahr, willkürliche Gewalt, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Bürgerkrieg, Zentralsomalia, Südsomalia, failed state, Mogadischu, Al Shabaab, Al Shabaab-Miliz, interne Fluchtalternative, Rückkehrergefährdung,
Normen: AsylVfG § 4, AsylVfG § 4 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

Vorliegend hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht, vor seiner Ausreise aus Somalia aufgrund flüchtlingsrechtlich relevanter persönlicher Merkmale einer Verfolgung im Sinne des § 3 AsylVfG ausgesetzt gewesen zu sein. Aus den Lageberichten des Auswärtigen Amtes (zuletzt vom 02.02.2015, S. 12) und von Amnesty International (Report 2015, S. 3) ist zwar bekannt, dass Kinder und Jugendliche jedenfalls in den südlichen Regionen von Somalia häufig sowohl von den Clanmilizen als auch von Al-Shabaab als Kindersoldaten zwangsrekrutiert werden. Die Zwangsrekrutierungen durch Al Shabaab, welche der Kläger für sich befürchtet, finden nach den vorliegenden Informationen jedoch wahllos statt und nehmen keine Rücksicht auf die Identität, Überzeugungen, Clanzugehörigkeit oder sonstige persönliche Merkmale des Einzelnen. Auch der Kläger hat in diesem Sinne vorgetragen, dass von den Versuchen der Zwangsrekrutierung alle männlichen Kinder und Jugendliche von Chula gleichermaßen bedroht waren. Besondere Umstände, aus denen sich im vorliegenden Fall eine individuelle Gefährdung des Klägers durch Al Shabaab ergeben könnte, sind nach seinem Vortrag nicht ersichtlich. Die Versuche, den Kläger zwangsweise in die Miliz einzuziehen, können deshalb keine individuelle Verfolgung im Sinne von § 3 AsylVfG sein.

Dem Kläger steht jedoch der hilfsweise geltend gemachte Anspruch auf die Feststellung zu, dass die Voraussetzungen des § 4 AsylVfG hinsichtlich Somalia vorliegen. Er hat stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm im Falle einer Abschiebung in sein Herkunftsland ein ernsthafter Schaden nach § 4 Absatz 1 Satz 1 AsylVfG droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Absatz 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen des dortigen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.

In Somalia besteht ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne von § 4 AsylVfG. Typische Beispiele für die Annahme eines bewaffneten Konflikts in diesem Sinne sind Bürgerkriegsauseinandersetzungen und Guerillakämpfe. Auch kann es bei einer Gesamtwürdigung der Umstände genügen, dass die Konfliktparteien in der Lage sind, anhaltende und koordinierte Kampfhandlungen von solcher Intensität und Dauerhaftigkeit durchzuführen, dass die Zivilbevölkerung davon typischerweise erheblich in Mitleidenschaft gezogen wird (BVerwG, Urteil vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 -, BVerwGE 136, 360). Der Einzelrichter teilt nach den vorliegenden, in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln die Einschätzung des VG Stade (Urteil vom 16.06.2015 - 3 A 3507/13 -, Rechtsprechungsdatenbank; ebenso z.B. VG München, Urteil vom 11.08. 2014 - M 11 K 14.30049 -, juris, Rn 28 ff.), die wie folgt umschrieben wurde:

"Somalia ist spätestens seit Beginn des Bürgerkriegs 1991 ohne effektive Staatsgewalt. Im Herbst 2012 wurde die auf der Grundlage der Übergangsverfassung von 2004 amtierende Übergangsregierung durch eine neue Regierung unter dem Akademiker Hassan Sheikh Mohamud als Präsidenten und dem Geschäftsmann Abdi Farah Shirdon als Premierminister abgelöst; eine neue Übergangsverfassung wurde ebenfalls verabschiedet. Auch der neuen Regierung ist es nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes bislang nicht gelungen, über weite Teile des Landes außerhalb der Hauptstadt Mogadischu effektive Kontrolle zu erlangen. Zwar hat die Mission der afrikanischen Union AMISOM einige größere Städte im Süden des Landes befreit. Dennoch herrschen in großen Teilen Süd- und Zentralsomalias auch weiterhin Zustände, die im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte und die humanitäre Lage desaströs sind.

In Süd- und Zentralsomalia und auch in der Hauptstadt Mogadischu herrscht Bürgerkrieg (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 02.02.2015, S. 4). Deutlich weniger von gewaltsamen Auseinandersetzungen sind lediglich die Regionen Puntland sowie Somaliland betroffen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 02.02.2015, S. 4). Aber auch dort, insbesondere in der Region Mudug (Grenze zu Puntland) sowie in den zwischen Puntland und Somaliland umstrittenen Gebieten (Regionen Sool und Sanaag sowie im östlichen Teil der Region Togdheer) muss mit Anschlägen und Kampfhandlungen gerechnet werden. Die Sicherheitskräfte in Somaliland können in einem vergleichsweise befriedeten Umfeld zwar ein höheres Maß an Sicherheit im Hinblick auf terroristische Aktivitäten und allgemeine Kriminalität herstellen als in anderen Landesteilen. Gefahren, die aus der allgemeinen Bürgerkriegssituation in Somalia resultieren, können jedoch auch für Somaliland nicht ausgeschlossen werden (vgl. Auswärtiges Amt, Somalia: Reisewarnung Stand: 11.06.2015; abrufbar unter: www.auswaertiges-amt.de DE/Laenderinformationen/00-SiHi/Nodes/SomaliaSicherheit_node.html).

Ferner ist davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit im Sinne von § 4 Absatz 1 Satz 2 AsylVfG infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann sich eine Gefahr in diesem Sinne aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Zivilpersonen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts ergeben, wenn sich die Gefahr in der Person des betreffenden Ausländers verdichtet. Eine solche Verdichtung bzw. Individualisierung kann sich zum einen aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Ausländers ergeben. Sie kann zum anderen ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 14.07. 2009 - 10 C 9.08 - BVerwGE 134, 188). Bezugspunkt für die Gefahrenprognose ist dabei der tatsächliche Zielort des Ausländers bei einer Rückkehr, in der Regel die Herkunftsregion des Ausländers, in die er typischerweise zurückkehren wird (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - InfAuslR 2013, 241). Soweit sich eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise aus dem hohen Gefahrengrad für jede sich in dem betreffenden Gebiet aufhaltende Zivilperson ergibt, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich. Der bei Bewertung der entsprechenden Gefahren anzulegende Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bei der Prüfung der tatsächlichen Gefahr im Sinne des Art. 3 EMRK (BVerwG, Urteil vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 - NVwZ 2012, 454)."

"Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich, dass in Zentral- und Südsomalia ein derart hoher Gefahrengrad besteht, dass jede dort anwesende Zivilperson einer ernsthaften individuellen Bedrohung in diesem Sinne ausgesetzt ist. Dies gilt auch für die von der Zentralregierung überwiegend kontrollierte Hauptstadt Mogadischu.

Wie auch im aktuellsten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 2. Februar 2015 beschrieben wird, gilt Somalia weiterhin als ein prägnantes Beispiel für einen "failed state". Es gibt keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind sehr fragil und sehr schwach und wesentliche Staatsfunktionen können von ihnen nicht ausgeübt werden. Die Autorität der Zentralregierung wird von dem nach Unabhängigkeit strebenden Somaliland im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen Al-Shabaab in Frage gestellt. Dementsprechend haben die seit spätestens 1991 fehlende effektive Staatsgewalt und die faktische Machtausübung bewaffneter extremistischer, in Fundamentalopposition zur ehemaligen Übergangsregierung sowie zur neuen Bundesregierung stehenden Gruppen in weiten Teilen Somalias für die allgemeine Menschenrechtslage desaströse Folgen. Grundlegende Menschenrechte wie das Recht auf Leben, Freiheit und körperliche Unversehrtheit werden regelmäßig verletzt. Die entsprechenden Detailbeschreibungen sind in den vorliegenden Lageberichten des Auswärtigen Amtes seit 2006 ungeachtet der Unterschiede in der Beschreibung der politischen Lage im Wesentlichen unverändert. Ebenso steht seit Jahren fest, dass die Verhältnisse in Somaliland und Puntland zwar besser sind, es aber aufgrund des somalischen Clansystems häufig schwierig oder unmöglich ist diese Gebiete tatsächlich zu erreichen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 02.02.2015, S. 14). Nach Angaben des Auswärtigen Amtes sind nach übereinstimmenden Schätzungen diverser VN-Organisationen und internationaler Nichtregierungsorganisationen im somalischen Bürgerkrieg 2007 bis 2011 über 20.000 Zivilisten zu Tode gekommen, davon der größte Teil in Süd- und Zentralsomalia. Im Jahr 2012 sind allein in Mogadischu mindestens 160 Zivilisten getötet worden. Außerdem hat es mindestens 6.700 Verletzte durch Kampfhandlungen gegeben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 12.06.2013, S. 8). Entsprechend dieser Ausgangslage entsprach es spätestens seit ca. 2007 der Praxis der Beklagten bei glaubhafter Herkunft aus Süd- und Zentralsomalia generell zumindest Abschiebungsschutz wegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts oder drohender Menschenrechtsverletzungen zu gewähren (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 19.03.2014 - 7 A 234/13 -). Eine quantitative Ermittlung des Tötungs- und. Verletzungsrisikos (vgl. BVerwG, Urteile vom 27.04.2010 - 10 C 4.09 - und vom 17.11.2011 - 10 C 13.10 -) erfolgte insoweit nicht. Sie war auch nicht möglich, weil es keine Staatsgewalt und deshalb auch keine Erfassung von Verletzungs- und Todesopfern bewaffneter Konflikte oder Straftaten gab und auch der Zugang von internationalen Hilfsorganisationen, Pressevertretern und anderen Personen, die insoweit Zahlenmaterial hätten liefern können, stark eingeschränkt bis unmöglich war (vgl. hierzu VG Regensburg, Urteil vom 31.03.2014 - RN 7 K 13.30434 - juris). Diese Einschätzung der Gefahrenlage durch das Bundesamt in Somalia und insbesondere in Mogadischu entsprach auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. Urteil vom 28.06.2011 - Nr. 8319/07 - Sufi u. Elmi - Vereinigtes Königreich - NVWZ 2012, 681). Danach herrschte in Mogadischu in einem Ausmaß Gewalt, dass grundsätzlich jedermann in der Stadt tatsächlich einer Gefahr im Sinne einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt war.

Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ergibt sich nicht, dass sich die Gefahrenlage in Süd- und Zentralsomalia maßgeblich verändert hat. Zwar hat der EGMR in einer Entscheidung vom 5. September 2013 (Nr. 886/11 - K.A.B./Schweden Rn. 86-97) im Fall eines somalischen Staatsangehörigen, dessen Abschiebung nach Somaliland angedroht worden war und bei dem die Weiterschiebung nach Mogadishu nicht auszuschließen war, unter Auswertung aktueller Erkenntnisquellen entschieden, dass sich die Situation so verbessert habe, dass nicht mehr angenommen werden könne, es bestehe für jedermann in Mogadischu das ernsthafte Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gemäß Art. 3 EMRK. In einer "Dissenting Opinion" zur Entscheidung vom 5. September 2013 wurde ausgeführt, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine eigenen Vorgaben in der Entscheidung vom 28. Juni 2011 nicht ausreichend berücksichtigt habe. Insbesondere sei nicht hinreichend berücksichtigt worden, dass die Einschätzung des Rückgangs ziviler Opfer nicht auf belastbaren Zahlen beruhe, es sei die Zahl der Rückkehrer vor dem Hintergrund der weiterhin extrem hohen Zahl der Vertriebenen überbewertet und die fehlende gesicherte Lebensgrundlage für Rückkehrer missachtet worden sowie die Unberechenbarkeit der Situation nach zwanzig Jahren Bürgerkrieg nicht hinreichend berücksichtigt worden (vgl. hierzu VG Regensburg, Urteil vom 31.03.2014 - a.a.O.). Die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte angenommene positive Entwicklung in Mogadishu hat sich nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln weder bestätigt noch fortgesetzt. Zwar hat die Al-Shabaab nicht wieder offiziell die Macht in Mogadishu übernommen, aktuelle Zeitungsberichte belegen aber, dass regelmäßig Sprengstoffattentate mit Tötung und Verletzung von Zivilpersonen stattfinden (vgl. z.B. Spiegel Online vom 01.01.2014: Anschlag auf Hotel; vom 13.02.2014: Anschlag auf Flughafen; vom 21.02.2014: Anschlag auf Präsidentenpalast; vom 26.06.2014: Anschlag auf Hotel; vom 03.07.2014: Ermordung eines Parlamentariers auf offener Straße; vom 08.07.2014: Tote bei Erstürmung des Präsidentenpalasts in Mogadishu; vom 01.08.2014 Tötung eines Politikers; vom 08.09.2014: Sprengstoffattentat auf einen Konvoi der Friedenstruppe der Afrikanischen Union; vom 27.09.2014: Steinigung einer Frau; vom 02.10.2014: Tote auf beiden Seiten bei Kämpfen mit Schabab-Miliz; vom 15.10.2014: fünf Tote bei Anschlag auf Geheimdienstbeamten; vom 03.12.2014: vier Tote bei Anschlag auf UNO-Konvoi; vom 15.12.2014: Gefahr in Mogadischu durch Al-Shabaab; vom 25.12.2014: Shabaab-Miliz greift Sitz der Friedensmission in Mogadischu an; vom 22.01.2015: Selbstmordanschlag auf Hotel in Mogadischu; vom 09.02.2015: Shabaab-Miliz tötet Parlamentsabgeordneten; vom 20.02.2015: Viele Tote bei Shabaab-Anschlag auf Regierungsvertreter; vom 27.03.2015: Tote bei Anschlag auf Hotel in Mogadischu; vom 28.03.2015: Terroranschlag in Mogadischu; vom 14.04.2015: Shabaab-Kämpfer stürmen Bildungsministerium; vom 20.04.2015: UNO-Mitarbeiter sterben bei islamistischer Terror-Attacke durch die islamistische Shabaab-Miliz). Dass in der Hauptstadt Mogadischu wieder vermehrt mit Anschlägen durch die Al-Shabaab zu rechnen ist, wird zudem durch einen Bericht von Amnesty International (vgl. Amnesty International Briefing vom 23. Oktober 2014: "Forced Returns to South and Central Somalia, Including to Al-Shabaab Areas: A Blatant Violation of International Law") bestätigt Danach hat die Al-Shabaab ihre Aktivitäten in Form von Konflikten gegen andere bewaffnete Gruppen im Jahr 2014 weiter erhöht. Der Anstieg der Al-Shabaab Aktivität im Allgemeinen hat auch zu einer Zunahme der Gewalt gegen Zivilisten mit der Folge zunehmender ziviler Opfer geführt (vgl. Amnesty International Briefing vom 23.10.2014, S. 2 m.w.N.). Die Al-Shabaab-Miliz hat im Jahr 2014 selbst auf schwer bewachte in Mogadischu befindliche (Regierungs-) Gebäude tödliche Angriffe verübt. Beispielsweise erlebte die "Villa Somalia", der Sitz der somalischen Regierung, zwei tödlichen Angriffe im Jahr 2014, zuletzt im Juli 2014, bei dem Al-Shabaab-Kämpfer das Gelände stürmten. Wenngleich die Angriffe der Al-Shabaab in Mogadischu erfahrungsgemäß insbesondere während des Ramadan jedes Jahr stark zunahmen, erreichte die Anzahl der während des Ramadan im Juli 2014 verübten Anschläge eine der höchsten Ebenen seit dem Rekordjahr 2010, als die Al-Shabaab-Miliz den Großteil der Stadt Mogadischus kontrollierte (vgl. Amnesty International Briefing vom 23.10.2014, S. 2 f. m.w.N.).

Dass Al-Shabaab relativ leicht prominente und theoretisch gut bewachte Ziele in der Hauptstadt angreifen kann, stellt nach Einschätzung von Beobachtern eine schwerwiegende Besorgnis für die Regierung dar und schwächt ihre Hoffnungen für eine schnelle Rückkehr zu "Normalität" in Somalia (vgl. VG München, Urteil vom 23.01.2014 - M 11 K 13.31193 - juris mit Verweis auf Länderbericht der UK Border Agency zu Somalia vom 05.08.2013). Es kann daher nur der Schluss gezogen werden, dass sich die Methoden des innerstaatlichen Konflikts in Mogadischu und anderer "befreiter" Städte geändert haben, nicht aber, dass sie beendet sind. Die Gefahrenlage in Süd- und Zentralsomalia hat sich seit 2011 nicht wesentlich verbessert. Das Gericht verweist insoweit auf die Ausführungen des Verwaltungsgerichts Braunschweig in seinem Urteil vom 19. März 2014 (7 A 175/13), denen es folgt. (...)

Die insoweit getroffene Einschätzung hinsichtlich der Lage in Somalia wird im Übrigen durch eine Stellungnahme des UNHCR ("International Protection Considerations with Regard to people fleeing Southern and Central Somalia", Januar 2014) bestätigt, die auf der Grundlage einer Auswertung der Situation bis 24. Dezember 2013 ebenfalls von einem weiterhin gegebenen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt mit erheblichen Opfern in der Zivilbevölkerung ausgeht. Darüber hinaus rät Amnesty International in einem Briefing vom 23. Oktober 2014 ("Forced Retums to South and Central Somalia, Including to Al-Shabaab Areas: A Blatant Violation of International Law"), dass Länder unter keinen Umständen versuchen sollen, Individuen nach Süd- und Zentralsomalia zurückzuschicken, da die fragilen Sicherheitsbedingungen nicht zu grundlegenden, dauerhaften und stabilen Veränderungen geführt haben. Letztlich lassen die verfügbaren Erkenntnisquellen allenfalls Schätzungen bezüglich der Todesopfer zu, nicht aber zu sonstigen Gewaltopfern. Das Gericht geht gerade auch für die Lage in Mogadischu von einer erheblichen Dunkelziffer aus. Eine quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. zuletzt Urteil vom 14.02.2014 - 10 C 6.13 - juris) ist daher weiterhin - belastbar - nicht möglich." [...]

Weiter ist der Kläger auch aufgrund gefahrerhöhender Umstände in seiner Person einer ernsthaften Bedrohung im Sinne des § 4 AsylVfG ausgesetzt. Für die Einschätzung seiner Gefährdung ist zudem entscheidend, dass er in seine Herkunftsregion nicht direkt aus dem Ausland zurückkehren könnte. Denn seine Rückführung würde über Mogadischu erfolgen (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 02.02.2015, S. 17). Von dort aus müsste er dann auf dem Landweg in die Region Kismaayo, um zur Insel Chula zu gelangen. Gerade in den ländlichen Gebieten Südsomalias, durch die seine Rückreise führen würde, ist die Al-Shabaab-Miliz weiterhin besonders präsent und hält dort noch weite Gebiete unter ihrer Kontrolle. Ungewiss ist außerdem, ob der Kläger auf seiner Heimatinsel überhaupt noch Verwandte und ausreichende Ressourcen vorfinden würde, um sein Überleben zu sichern. Das VG Stade (a.a.O.) hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, was der Einzelrichter ebenfalls teilt:

"Zwar hat in jüngster Zeit die Zahl der Rückkehrer nach Somalia zugenommen. Die Mehrzahl der Somalier, die nach Mogadischu zurückkehren, dürfte allerdings vermögend sein und für sich die Möglichkeiten für Geschäfte, politischen Einfluss sowie Posten sehen. Es wird berichtet, dass es extrem schwierig sei, nach Mogadischu zurückzukehren, wenn man bei der Rückkehr niemanden habe, von dem man Unterstützung erhalte. Die Sicherheitslage in Mogadischu ist für Flüchtlinge schlechter als für bessergestellte Teile der Bevölkerung. Es kommt offensichtlich u.a. zu Übergriffen auf Rückkehrer durch Angehörige der ortsansässigen Bevölkerung. Denn die zurückkehrenden Personen werden als Konkurrenten im Hinblick auf Arbeitsmöglichkeiten und den durch Rückkehrer bedingten Anstieg der Waren- und Grundstückspreise angesehen (VG München, Urteil vom 23.01.2014 - M 11 K 13.31193 - juris).

Hinzu kommt, dass es häufig schwierig oder unmöglich ist, Gebiete in Zentral- und Südsomalia tatsächlich zu erreichen, die nicht direkt von Kampfhandlungen, Willkürmaßnahmen unterschiedlicher Milizen und Verfolgungsmaßnahmen lokal dominierender gegenüber anderen Clans betroffen sind (...). Weiter muss davon ausgegangen werden, dass insbesondere ein junger Mann wie der Kläger bei einer Einreise in ein Al-Shabaab-Gebiet riskieren würde, als Spion der Regierung verdächtigt zu werden (VG München, Urteil vom 23.01.2014 - M 11 K 13.31193 - juris mit Bezug auf Bundesamt für Migration der Schweiz, Fokus Somalia - Sicherheitslage in Süd- und Zentralsomalia vom 08.07.2011). Al-Shabaab ist in Zentralsomalia und in Mogadischu noch präsent. Der Kläger wäre damit im Falle einer Einreise in ein derartiges Gebiet der willkürlichen Strafjustiz der Islamisten ausgesetzt. Al-Shabaab richtet regelmäßig und ohne ordentliches Verfahren Menschen unter dem Vorwurf hin, diese hätten mit der Regierung, einer internationalen Organisation oder einer westlichen Hilfsorganisation zusammengearbeitet (vgl. Auswärtigen Amt, Lagebericht vom 02.02.2015, S. 11). Beispielsweise wurden allein im Jahr 2011 mindestens 13 Fälle bekannt, in denen Al-Shabaab Personen unter dem Vorwurf getötet hat, diese hätten spioniert (vgl. Auswärtigen Amt, Lagebericht vom 12.06.2013, S. 12).

Insofern ist im Hinblick auf die dargestellte Gefährdungslage im Falle einer Einreise in ein Herrschaftsgebiet von Al-Shabaab davon auszugehen, dass der Kläger schutzlos in der Region Mogadischu bleiben müsste, um sich nicht den bestehenden Gefahren für Leib und Leben auszusetzen. Unter Berücksichtigung dessen kann es dahingestellt bleiben, ob sich die Lage konkret in der Herkunftsregion des Klägers ... von der geschilderten generellen Lage in Süd- und Zentralsomalia maßgeblich unterscheidet."

Demzufolge ist dem Kläger weder die Reise nach Chula noch ein Ausweichen in andere Gebiete Somalias, insbesondere in den Norden, möglich, weil - wie dargestellt - diese Gebiete ohne existentielle Gefahren nicht zu erreichen sind (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 02.02.2015, S. 14). [...]