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VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 28.07.2015 - 7 K 5156/14.A - asyl.net: M23097
https://www.asyl.net/rsdb/M23097
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen Schizophrenie und überwiegender Wahrscheinlichkeit einer psychotischen Dekompensation bei einer Rückkehr in den Kosovo.

Schlagwörter: Kosovo, psychische Erkrankung, Wiederaufnahme, Wiederaufnahme des Verfahrens, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, Schizophrenie, Krankheit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet.

Der angegriffene Bescheid, mit dem das Bundesamt den Antrag auf Abänderung des vormaligen Bescheides vom 2. Mai 2012 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG abgelehnt hat, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 und 5 VwGO. Sie hat nach der gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung einen Anspruch auf Feststellung eines solchen Abschiebungsverbotes.

Nach § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden. Der Antrag ist nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen (§ 51 Abs. 2 VwVfG). Der Antrag muss binnen drei Monaten beginnend mit dem Tag, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat, gestellt werden (§ 51 Abs. 3 VwVfG).

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Das vom Gericht eingeholte Sachverständigengutachten des Zentrums für Trauma- und Konfliktmanagement GmbH vom 23. April 2015 ist ein neues Beweismittel, das im Hinblick auf das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG eine der Klägerin günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG). In diesem Gutachten wurde nämlich überzeugend dargelegt, dass eine Rückführung mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer zeitnahen erheblichen Verschlimmerung der festgestellten Erkrankung der Klägerin bedeuten würde. Da das Gericht dieses Beweismittel im laufenden Verfahren erwirkt hat, kommt es auf die weiteren Voraussetzungen (unverschuldet im früheren Verfahren nicht vorgelegt, Vorlage binnen drei Monaten) nicht an.

Aber auch unabhängig davon, ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, hat das Bundesamt gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG i.V.m. §§ 48, 49 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob eine bestandskräftige frühere Entscheidung unter anderem zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zurückgenommen oder widerrufen wird. Insoweit besteht ein Anspruch des Asylbewerbers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Dem steht nicht entgegen, dass § 71 Abs. 1 und 3 AsylVfG für Asylfolgeanträge die Möglichkeit einer derartigen Ermessensentscheidung ausschließt, denn diese Regelungen sind weder unmittelbar noch entsprechend auf erneute Anträge nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG anzuwenden. Dabei ist das Gericht gehalten, die Sache nach Möglichkeit spruchreif zu machen. Deswegen ist eine abschließende gerichtliche Entscheidung zu Gunsten des Ausländers dann geboten, wenn die Verweigerung der Rücknahme oder des Widerrufs des Verwaltungsakts zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde und das Ermessen der Behörde daher auf Null reduziert ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 20. Oktober 2004 - 1 C 15/03 -; Urteil vom 31. März 2000 - 9 B 41.99 -; Urteil vom 07. September 1999 - 1 C 6/99 -; Urteil vom 19. November 1996 - 1 C 6/95 -, jeweils veröffentlicht in der juris-Datenbank).

Gemessen an diesen Maßstäben sind vorliegend die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens in Bezug auf die Feststellung des Bundesamtes zu § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben, denn das Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung würde zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen, so dass eine Ermessensreduktion auf Null gegeben ist.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG liegen vor. Die Anwendung dieser Norm setzt die Feststellung einer konkreten Gefahr für die dort genannten Rechtsgüter Leib, Leben oder Freiheit voraus. Dabei muss eine beachtliche Wahrscheinlichkeit bestehen, dass dem Ausländer bei einer Rückkehr die in der Vorschrift genannte Gefahr droht (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 23. März 1994, 18 B 2547/93, VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 2. September 1993, A 14 S 482/93, EZAR 043 Nr. 2 (dieses und die folgenden Zitate jeweils zu der Vorgängervorschrift § 53 Abs. 6 AuslG)).

Im Rahmen der Gefahrenprognose ist dabei - in Anlehnung an die zum Asylrecht entwickelten Grundsätze - eine "qualifizierte" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände anzustellen (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991, 9 C 118.90, NVwZ 1992, 582).

Deshalb wird der Grad der Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts umso geringer sein, je höher das zu schützende Rechtsgut und die Schwere seiner Beeinträchtigung sind, denn es liegt auf der Hand, dass es aus der - insoweit maßgebenden - Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied macht, ob er lediglich gewisse Beeinträchtigungen seiner Lebensqualität oder aber existenzielle Gefährdungen zu erwarten hat (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991, a.a.O., 584).

Maßgebend ist somit letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit (vgl. BVerwG, Urteil vom 5. November 1991, a.a.O.).

Zu den zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann auch die Gefahr gehören, dass sich die Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat wesentlich verschlimmert, etwa weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 1998, 9 C 13.97, NVwZ 1998, 973).

Abzustellen ist für die Beurteilung des konkreten Falles nicht darauf, ob eine Krankheit allgemein in dem Heimatstaat behandelbar ist, maßgeblich ist vielmehr, ob eine abstrakt mögliche Behandlung auch für den jeweiligen Ausländer – etwa in räumlicher, zeitlicher und finanzieller Hinsicht – tatsächlich erreichbar ist (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 12. Juli 2004, 1 B 247/03 (1 PKH 80/03), Buchholz 402.240 § 53 AuslG Nr. 79; vom 29. April 2002, - 1 B 59.02 -).

Nach diesen Grundsätzen ist hier ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich des Kosovo anzunehmen. Es ist beachtlich wahrscheinlich, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin bei Rückkehr in den Kosovo alsbald wesentlich verschlechtern würde.

Nach § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Sinn und Zweck der freien richterlichen Beweiswürdigung ist es gerade, das Gericht nicht an starre Regeln zu binden, sondern ihm zu ermöglichen, den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden. Die Grenze freier Beweiswürdigung ist erst überschritten, wenn das Gericht von einem unrichtigen und unvollständigen Sachverhalt ausgeht, sich als entscheidungserheblich aufdrängende Umstände übergeht und bei der Würdigung die Grenzen einer objektiven willkürfreien, die Natur- und Denkgesetze sowie die allgemeinen Erfahrungssätze beachtenden Wertung verletzt (vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Februar 2005 – 1 C 29/03 –, NVwZ 2005, 1087; OVG NRW, Beschlüsse vom 26. April 2006 – 8 A 4323/03.A –, AuAS 2006, 165, vom 30. April 2006 – 13 A 2820/04.A –, vom 5. Juni 2007 – 13 A 4569/05.A – und vom 27. Juli 2007 – 13 A 2745/04.A –, juris, Rn. 40).

Vom Grundsatz der freien Beweiswürdigung umfasst ist neben der Würdigung des Vorbringens des Asylbewerbers im asylrechtlichen Verfahren bei Geltendmachung gesundheitlicher Beeinträchtigungen auch die Wertung und Bewertung vorliegender ärztlicher Atteste und Stellungnahmen sowie die Überprüfung darin getroffener Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit. Eine besondere medizinische Sachkunde ist dazu regelmäßig nicht erforderlich. Die Würdigung ärztlicher Atteste und Stellungnahmen, insbesondere zum Vorliegen psychischer Erkrankungen von Asylbewerbern, ist vielmehr eine sich gerade in Asyl- und Abschiebungsschutzklagen ständig wiederholende Aufgabe.

Das Gericht legt der Bewertung des Gesundheitszustandes der Klägerin neben den von ihr schon im Verwaltungsverfahren vorgelegten ärztlichen Unterlagen, in denen von einer psychischen Störung (depressive Störung und posttraumatischen Belastungsstörung) die Rede war, das Gutachten des Facharztes für Psychiatrie/Psychotherapie Dr. I. vom Sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt S. vom 1. Oktober 2013 zu Grunde, in dem Zweifel an einer posttraumatischen Belastungsstörung geäußert und die Begutachtung durch einen erfahreneren Gutachter empfohlen wurde. Vor Allem aber stützt es sich auf das durch Beweisbeschluss vom 11. Februar 2015 eingeholte Sachverständigengutachten der Dipl.-Psych. X.-S. vom Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement GmbH vom 23. April 2015. Dort werden zwar die Zweifel des Dr. I. am Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung bestätigt, doch gelangt die Gutachterin nach umfänglicher Auswertung früherer ärztlicher Erhebungen und eigener Untersuchungen zur Diagnose einer katatonen Schizophrenie (ICD-10: F20.2). Hierzu führt sie weiter aus: Diese Erkrankung würde zwar bei einer Rückkehr in den Kosovo nicht zu einer Retraumatisierung auf Grund einer Konfrontation mit dem Ort eines ggf. traumatischen Geschehens führen. Dennoch käme es bei einer Rückführung ins Heimatland mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu der Gefahr einer zeitnahen erheblichen Verschlechterung der festgestellten Erkrankung. Bei der Klägerin liege nämlich krankheitsbedingt eine starke Überzeugung vor, negative Erfahrungen mit Albanern gemacht zu haben, die – neben der sich überwiegend wahrscheinlich zeitnah einstellenden gravierenden Verschlimmerung des psychischen Gesundheitszustandes bei Rückkehr in den Kosovo – der Wirksamkeit einer etwaigen dortigen Behandlung entgegenstünden. Aus klinisch-psychologischer Sicht sei es sehr wahrscheinlich, dass die Klägerin auf Grund ihres Misstrauens, ihrer Ängste sowie ihrer Annahme, negative Erfahrungen mit Albanern gemacht zu haben, nicht fähig wäre, sich auf ein dortiges Behandlungsangebot einzulassen. Eine Rückkehr würde für sie eine weitere äußere Belastung darstellen, die sie aufgrund ihrer derzeitigen instabilen psychischen Verfassung nicht angemessen bewältigen könne. In einem solchen Falle könne mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine psychotische Dekompensation angenommen werden mit der Folge, dass auch mögliche suizidale Handlungen nicht ausgeschlossen werden können. [...]