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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 24.06.2015 - 5823002-285 - asyl.net: M23108
https://www.asyl.net/rsdb/M23108
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aufgrund der Gefahr einer durchgreifenden Gesundheitsbeeinträchtigung wegen fehlender Möglichkeit, eine Behandlung in Tunesien zu finanzieren.

Schlagwörter: Tunesien, psychische Erkrankung, chronische Erkrankung, Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis, medizinische Versorgung, Existenzminimum, Finanzierbarkeit,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Ein Abschiebungsverbot liegt vor.

Zwar kommt das Abschiebungsverbot des § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegend nicht in Betracht. Es sind jedoch die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben.

Von einer Abschiebung gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn für den Ausländer eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (BVerwG, U. v. 13.01.2013, 10 C 15.12, Rdnr. 37).

Solche Gefahren drohen dem Antragsteller bei Rückkehr in sein Herkunftsland.

Eine erhebliche konkrete Gefahr i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann vorliegen, wenn die im Zielstaat drohende Beeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der der Ausländer bereits in der Bundesrepublik Deutschland leidet. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, ist in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, B. v. 17.08.2011,10 B 13.11 u. a.).

Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist es erforderlich, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, B. v. 17.08.2011, a.a.O.)

Die Gefahr ist "erheblich" i. S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und "konkret", wenn der Asylbewerber alsbald nach seiner Rückkehr in den Abschiebestaat in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, 9 C 58.96, BVerwGE 105, 383).

Die gemäß § 60 Abs. 7 Abs. 1 AufenthG zu berücksichtigende Gefahr kann sich trotz an sich im Zielstaat verfügbarer medikamentöser und ärztlicher Behandlung auch aus sonstigen Umständen ergeben, die dazu führen, dass der betroffene Ausländer die benötigte medizinische Versorgung tatsächlich nicht erlangen kann. Denn eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen tatsächlich nicht zugänglich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 29.10.2002, EZAR 043 Nr. 56, 1 C 1.02 und vom 25.11.1997, BVerwGE 105, 383, 9 C 58.96 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Antragsteller konnte durch das vorgelegte Gutachten nachweisen, dass er an einer dauerhaften psychischen Erkrankung leidet, die der medikamentösen und fachärztlichen Behandlung bedarf. Da der Antragsteller nach seinen glaubhaften Angaben in Tunesien ein Leben am Rande des Existenzminimums geführt hat und auch nicht über vermögende Angehörige verfügt, dürfte für ihn selbst in den Ballungsräumen seines Heimatlandes keine qualifizierte psychiatrische Behandlung zu erlangen sein. Es besteht für ihn daher bei Rückkehr in sein Heimatland die Gefahr einer durchgreifenden Gesundheitsbeeinträchtigung.

In Anbetracht der Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erübrigt sich die Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG. Beide Anspruchsgrundlagen bilden einen einheitlichen Streitgegenstand (vgl. BVerwG, U. v. 08.09.2011, 10 C 14.10), die Rechtsfolgen sind gleichrangig und gleichartig, so dass auf Doppel-, Mehrfach- und Parallelprüfungen verzichtet werden kann. [...]