VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Beschluss vom 13.08.2015 - W 7 S 15.50248 - asyl.net: M23131
https://www.asyl.net/rsdb/M23131
Leitsatz:

Aufgrund der zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Neuregelungen im ungarischen Asylsystem, wonach es offenbar zulässig ist, Asylanträge von über "sichere Drittstaaten" nach Ungarn eingereiste Asylsuchende ohne inhaltliche Prüfung abzulehnen, bestehen erhebliche Bedenken im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Ungarn zu überstellen.

Schlagwörter: Ungarn, Dublinverfahren, Suspensiveffekt, systemische Mängel, Inhaftierung, Asylverfahren, Aufnahmebedingungen, sichere Drittstaaten, Refoulement,
Normen: VwGO § 80 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 6,
Auszüge:

[...]

Der zulässige Antrag ist begründet. Das Aussetzungsinteresse der Antragsteller überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin, weil ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids bestehen.

Mehrere Kammern des Verwaltungsgerichts Würzburg folgten bisher dem Teil der Rechtsprechung, der systemische Mängel im ungarischen Asylsystem auch unter Berücksichtigung der Inhaftierungspraxis der ungarischen Behörden verneinten (insbesondere VG Würzburg, B.v. 18.5.2015 - W 6 S 15.50104; U.v. 29.4.2015 - W 1 K 14.30139; B.v. 11.5.2015 - W 6 S 15.50121; B.v. 24.4.2015 - W 6 S 15.30292; B.v. 18.2.2015 - W 4 S 15.50023; B.v. 25.8.2014 - W 6 S 14.50100 - juris; B.v. 2.4.2015 - W 2 E 15.50041; B.v. 19.3.2015 - W 2 S 14.50207; B.v. 2.1.2015 - W 1 S 14.50120 - juris). Aufgrund der nunmehr zum 1. August 2015 in Kraft getretenen Neuregelungen im ungarischen Asylsystem bestehen derzeit jedoch ernstliche Zweifel, ob diese rechtliche Beurteilung weiter Bestand haben kann. Unter Bezugnahme auf diese Neuregelungen haben jüngst mehrere Verwaltungsgerichte - zum Teil unter Änderung ihrer bisherigen Rechtsprechung - Eilanträgen gegen Überstellungen nach Ungarn stattgegeben (VG Kassel, B.v. 24.7.2015 - 6 L 1147/15.KS.A; VG Potsdam, B.v. 20.7.2015 - VG 6 L 915/15.A - beide Beck-Online; VG Münster, B.v. 7.7.2015 - 2 L 858/15.A). Rechtliche Bedenken bestehen insbesondere vor dem Hintergrund, dass es nach den gesetzlichen Neuregelungen im ungarischen Asylsystem offenbar zulässig ist, Asylanträge von über "sichere Drittländer" nach Ungarn eingereisten Asylsuchenden ohne inhaltliche Prüfung abzulehnen. Dies gilt offenbar unabhängig von deren Herkunft, d.h. auch wenn diese aus Bürgerkriegsländern wie dem Irak oder Syrien stammen (VG Kassel, a.a.O.). Dies wirft die Frage einer Verletzung des Non-Refoulement-Gebots der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention auf (VG Kassel, a.a.O.). Rechtliche Bedenken - betreffend auch die Antragsteller - bestehen weiterhin im Hinblick auf eine Ausweitung der Inhaftierung von Asyl- bzw. Flüchtlingsschutzsuchenden, einschließlich Familien, Kindern und besonders Schutzbedürftigen. In einer Stellungnahme vom 3. Juli 2015 zu den gesetzlichen Neuregelungen zeigt sich der UNHCR, dessen Stellungnahmen im Asylrecht anerkanntermaßen besonderes Gewicht zukommt, tief besorgt" (http://www.unhcr.org/ 559641846.html, Abruf 10.8.2015).

Es bedarf daher der eingehenden Prüfung im Hauptsacheverfahren, ob die neuen gesetzlichen Regelungen im ungarischen Asylrecht europäischem und sonstigem internationalen Recht genügen und ob sie geeignet sind, systemische Mängel des Asylverfahrens zu begründen. Da somit im Rahmen der im vorliegenden Verfahren vorzunehmenden summarischen Prüfung nicht abschließend beurteilt werden kann, ob nunmehr systemische Mängel des ungarischen Asylsystems bestehen, überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragsteller das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. [...]