VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Beschluss vom 04.08.2015 - 8 171/15.A - asyl.net: M23132
https://www.asyl.net/rsdb/M23132
Leitsatz:

1. Von einer persönlichen Anhörung des Antragstellers kann im Falle eines Zweitantrags nach § 71a AsylVfG regelmäßig nur dann abgesehen werden, wenn dem Bundesamt die Akten des in einem anderen Mitgliedstaat durchgeführten Asylverfahrens vorliegen.

2. Art. 14 Abs. 1 UAbs. 1 Richtlinie 2013/32/EU begründet die Pflicht des Bundesamtes zu einer persönlichen Anhörung des Antragstellers eines Zweitantrags im Sinne des § 71a AsylVfG.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Anhörung, persönliche Anhörung, Zweitantrag, Mitgliedstaat, EU-Mitgliedstaat, Wiederaufnahme, Wiederaufnahme des Verfahrens, Dublinverfahren,
Normen: RL 2013/32/EU Art. 14 Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 14 Abs. 1 UAbs. 1, AsylVfG § 71a, VwVfG § 51 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Rechtsgrundlage des Bescheids vom 14. Januar 2015 ist § 71a Abs. 1 AsylVfG. Nach dieser Vorschrift ist nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Fall eines Asylantrags im Bundesgebiet (Zweitantrag) ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG (Wiederaufgreifen des Verfahrens) vorliegen.

Der Anwendungsbereich der Vorschrift ist eröffnet. Die Antragsteller haben erfolglos ein Asylverfahren in Polen, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union, abgeschlossen.

Ein Asylverfahren im Sinne des § 71a AsylVfG ist jedes Asylverfahren, das im Einklang mit den Regeln der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK durchgeführt wurde. Für die sichereren Vertragsstaaten ist aufgrund des Konzepts der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 -, BVerfGE 94, 49 = juris, Rn. 181) bzw. des hinter der Schaffung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (vgl. Art. 78 AEUV) stehenden "Prinzips des gegenseitigen Vertrauens", das auf der Annahme beruht, alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, beachten die Grundrechte, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie - QualRL), der GFK sowie in der EMRK finden (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 und 493/19, C-411/10, C-493/10 -, Slg 2011, I-13905 = juris, Rn. 10 ff., 75, 78, 80), keine Prüfung der Beachtung der Regeln im Einzelfall erforderlich. Eine Ausnahme hiervon kommt nur in Sondersituationen in Betracht (vgl. Hailbronner, AuslR, Bd. 4, § 71a AsylVfG Rn. 12; Funke-Kaiser, in: GKAsylVfG, § 71a Rn. 11).

Für eine solche Sondersituation müssten systemischen Mängel des polnischen Asylverfahrens vorliegen. Diese sind jedoch nicht ersichtlich (vgl. BayVGH, Urteil vom 22. Juni 2015 - 11 B 15.50049 -, juris, Rn. 21 ff.; VG Aachen, Beschluss vom 30. Januar 2015 - 6 L 895/14.A -, juris, Rn. 9 ff., jeweils m.w.N.).

Dass die Antragsteller in Polen einen Asylantrag gestellt haben, ergibt sich aus der EURODAC Recherche des Bundesamtes. Das Verfahren war auch erfolglos im Sinne des § 71a AsylVfG.

Unter dem erfolglosen Abschluss eines Asylverfahrens sind nicht nur die (materielle) Ablehnung des Antrags, sondern auch die Rücknahme des Antrags oder die konkludente Aufgabe des Begehrens durch eine freiwillige Ausreise zu verstehen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, § 71a Rn. 13; Hailbronner, AuslR, Bd. 4, § 71a AsylVfG Rn. 14; a.A: Marx, AsylVfG, 8. Aufl. (2014), § 71a Rn. 12).

Vorliegend geht das Bundesamt ausweislich des streitgegenständlichen Bescheids zutreffend davon aus, dass der Antrag zurückgenommen wurde. Zwar haben die Antragsteller dies nicht vorgetragen. Es entspricht aber der Antwort der polnischen Behörden vom 23. August 2013 auf das Übernahmeersuchen des Bundesamtes. Dieses wurde unter Hinweis auf Art. 16 Abs. 1 d) der Verordnung 2003/343/EG (Dublin-II-VO) akzeptiert. Art. 16 Abs. 1 d) Dublin-II-VO erfasst gerade die Situation, in der ein Asylbewerber seinen Antrag während der Antragsprüfung zurückgezogen hat.

Das Gericht kann offen lassen, ob der streitgegenständliche Bescheid schon deshalb rechtswidrig ist, weil das Bundesamt die Abänderung des Bescheids vom 27. August 2013 von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG abhängig gemacht hat. Zwar ordnet der Wortlaut von § 71 Abs. 1 AsylVfG eine entsprechende Prüfung ausdrücklich an. Es könnten jedoch Zweifel bestehen, ob dieses Erfordernis unionsrechtskonform ist.

Zwar erlaubt auch das Unionsrecht in Art. 40 Abs. 2 der Richtlinie 2013/32/EU (Verfahrensrichtlinie - VRL), dass ein Folgeantrag auf internationalen Schutz zunächst daraufhin geprüft wird, ob neue Elemente oder Erkenntnisse betreffend die Frage, ob der Antragsteller als Person auf internationalen Schutz anzuerkennen ist, zuage getreten oder vom Antragsteller vorgebracht worden ist. Schon der Wortlaut von Art. 40 Abs. 1 VRL macht jedoch deutlich, dass sich dies nur auf die Situation eines weiteren Antrags in demselben Mitgliedstaat bezieht, in dem auch der erste Antrag gestellt wurde. Eine unionsrechtliche Vorschrift, die auch in der Situation des § 71a AsylVfG (Zweitantrag) eine vorgeschaltete Zulässigkeitsprüfung nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erlaubt, existiert gerade nicht. Dies legt zumindest den (Umkehr-)Schluss nahe, dass die Prüfung eines (Zweit-)Antrags auf internationalen Schutz im Sinne von Art. 2 h) Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie - QualRL), d.h. eines Antrags auf Gewährung des Flüchtlingsstatus oder des subsidiären Schutzstatus, nicht von den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG abhängig gemacht werden darf (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. (2014), § 71a Rn. 3 ff.; a.A.: VG Berlin, Beschluss vom 17. Juli 2015 - 33 L 164/15.A -, juris, Rn. 10 ff.; VG München, Urteil vom 7. Februar 2013 - M 11 K 12.30661 -, juris, Rn. 21).

Dies bedarf jedoch keiner abschließenden Entscheidung. Denn ernsthafte Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Entscheidung der Antragsgegnerin bestehen zumindest deshalb, da sie die Antragsteller vor der Entscheidung nicht angehört hat. Nach § 71a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG gelten für das Verfahren zur Feststellung, ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, die §§ 12 bis 25, 33, 44 bis 54 AsylVfG entsprechend. Ein Asylsuchender ist nach § 25 AsylVfG zu seinem Verfolgungsschicksal persönlich anzuhören. Nach § 71a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG kann hiervon nur dann abgesehen werden, soweit sie für die Feststellung, dass kein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, nicht erforderlich ist. Hiervon dürfte zumindest i.d.R. von vornherein nur dann ausgegangen werden können, wenn das Bundesamt die Akten des Asylverfahrens eines anderen Mitgliedstaats vorliegen hat. Denn nur dann ist der von § 51 VwVfG vorausgesetzte Vergleich möglich, ob ein neues Vorbringen vorliegt (vgl. Marx, AsylVfG, 8. Aufl. (2014), § 71a Rn. 16; Funke-Kaiser, in: GKAsylVfG, § 71a Rn. 23 ff.).

Eine persönliche Anhörung ist im Verfahren nach § 71a AsylVfG jedenfalls dann erforderlich, wenn es für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 - 3 VwVfG auf die Glaubhaftigkeit des Antragstellers ankommt. Dies ist hier mangels anderer Erkenntnisquellen über das in Polen durchgeführte Asylverfahren der Fall. Das Bundesamt hat die Akten über das Verfahren der Antragsteller in Polen nicht beigezogen. Es ist deshalb schon nicht ersichtlich, auf welche Tatsachengrundlage es seine Entscheidung gestützt hat. Den Antragstellern wurde vor dem Erlass des streitgegenständlichen Bescheids nicht einmal die Absicht einer Entscheidung nach § 71a AsylVfG ohne persönliche Anhörung schriftlich angekündigt. Sie hatten also auch insofern keine Möglichkeit sich zu äußern.

Die fehlende materielle Prüfung des Asylbegehrens ohne Anhörung konnte die Antragsgegnerin insbesondere nicht auf § 51 Abs. 2 VwVfG stützen. Nach der Vorschrift ist ein (Wiederaufgreifens-)Antrag nur dann zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf, geltend zu machen. Die Antragsgegnerin sieht diese Voraussetzungen in dem streitgegenständlichen Bescheid mit der Begründung als erfüllt an, dass die Antragsteller durch die Rücknahme ihres Antrags die Zuständigkeit Deutschlands verursacht hätten. Auch für diese Einschätzung fehlt es jedoch mangels der Beiziehung der polnischen Akten schon an einer Tatsachengrundlage. Überdies resultiert die Zuständigkeit Deutschlands nicht aus der Rücknahme des Asylantrags, sondern aus dem Ablauf der Überstellungsfrist. Dies kann den Antragstellern nicht zu Last gelegt werden.

Eine Anhörung der Antragsteller vor der getroffenen Entscheidung war auch unionsrechtlich zwingend erforderlich. Nach Art. 14 Abs. 1 UAbs. 1 VRL wird dem Antragsteller vor einer Entscheidung durch die Asylbehörde Gelegenheit zu einer persönlichen Anhörung gegeben. Das Vorliegen von Ausnahmegründen des Art. 14 Abs. 2 VRL ist nicht ersichtlich. Das durch § 71a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG eröffnete Ermessen durfte also auch aus unionsrechtlichen Gründen nicht zu Lasten der Antragsteller ausgeübt werden. [...]