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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 25.08.2015 - 5778707-423 - asyl.net: M23139
https://www.asyl.net/rsdb/M23139
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG im Rahmen eines Wiederaufgreifensantrags aufgrund rezidivierender depressiver Störung und mangelnder Behandlungsmöglichkeiten in Afghanistan.

Schlagwörter: Afghanistan, psychische Erkrankung, Medikamente, medizinische Versorgung, Wiederaufnahme, Abschiebungsverbot, Krankheit, erhebliche individuelle Gefahr, Suizidgefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1, VwVfG § 51 Abs. 2, VwVfG § 51 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

1. Dem Antrag wird entsprochen, es wird festgestellt, dass die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich Afghanistans vorliegen.

Hat das Bundesamt Im früheren Asylverfahren bereits unanfechtbar festgestellt, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht bestehen, so ist im Rahmen einer erneuten Befassung mit § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG im Wiederaufgreifensverfahren zunächst zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 51 Verwaftungsverfahrensgesetz (VwVfG) vorliegen. Insoweit besteht ein Anspruch auf erneute Prüfung und Entscheidung.

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG sind vorliegend gegeben.

Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG müssen sich entweder die Sach- oder Rechtslage zu Gunsten des Antragstellers geändert haben (Nr. 1) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine für ihn günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe nach § 580 Zivilprozessordnung (ZPO) bestehen (Nr. 3).

§ 51 Abs. 1 VwVfG fordert einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung oder Zuerkennung des internationalen Schutzes zu verhelfen (BVerfG, Beschluss vom 03.03.2000, 2 BvR 39/98, DVBl 2000, 1048-1050). Demzufolge ist ein schlüssiger Vortrag, der eine günstigere Entscheidung möglich erscheinen lässt, ausreichend.

Der Antragsteller ist mittlerweile psychisch erkrankt und aufgrund dessen auf psychiatrische Behandlung angewiesen. Diese Situation war im Vorverfahren noch nicht gegeben.

Aufgrund dessen kann sich der Vortrag des Antragstellers bei objektiver Beurteilung zu seinen Gunsten auswirken.

Weiterhin ist der Antrag nach § 51 Abs. 2 und 3 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen im früheren Verfahren geltend zu machen und er den Antrag binnen drei Monaten nach Kenntnis des Wiederaufgreifensgrundes gestellt hat. Auch diese Voraussetzungen sind erfüllt.

Die für den Wiederaufgreifensantrag angegebene Begründung führt zu einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich Afghanistans auszugehen ist.

Von einer Abschiebung gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn für den Ausländer eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (BVerwG, U. v. 13.01.2013, 10 C 15.12, Rdnr. 37).

Dabei kommt es nicht darauf an, von wem die Gefahr ausgeht und wodurch sie hervorgerufen wird. Es muss jedoch über die Gefahren hinaus, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, eine besondere Fallkonstellation gegeben sein, die als gravierende Beeinträchtigung die Schwelle der allgemeinen Gefährdung deutlich übersteigt (vgl. die insoweit auf § 60 Abs. 7 AufenthG übertragbaren Entscheidungen BVerwG, Urteile vom 29.11.1977, 1 C 33.71, BVerwGE 55, 82; vom 17.01.1989, 9 C 62.87, EZAR 201 Nr. 19; vom 30.10.1990, 9 C 60.89, BVerwGE 87, 52; vom 17.10.1995, 9 C 9.95, BVerwGE 99.324, und vom 23.08.1996, 9 C 144.95).

Eine erhebliche konkrete Gefahr i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann vorliegen, wenn die im Zielstaat drohende Beeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der der Ausländer bereits in der Bundesrepublik Deutschland leidet. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, ist in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, B. v. 17.08.2011, 10 B 13.11 u. a.).

Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist es erforderlich, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, B. v. 17.08.2011, a.a.O.)

Die Gefahr ist "erheblich" i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und "konkret", wenn der Ausländer alsbald nach seiner Rückkehr in den Abschiebestaat in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, 9 C 58.96, BVerwGE 105, 383).

Gemessen an diesen Grundsätzen muss davon ausgegangen werden, dass dem Antragsteller im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG drohen.

Aus den vorgelegten ärztlichen Unterlagen geht nachvollziehbar hervor, dass der Antragsteller unter einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig schwere Episode ohne psychotische Symptome, leidet. Neben der depressiven Symptomatik mit einer Antriebsstörung, latenter Suizidalität und Schlafstörungen geht aus dem Attest hervor, dass der Antragsteller gelegentlich auch pseudohalluzinatorisches Erleben mit Verfolgungsangst zeigt.

Aus medizinischer Sicht benötigt der Antragsteller dringend eine weitere psychiatrische Behandlung.

Zudem benötigt der Antragsteller zur Behandlung seiner psychischen Erkrankung die Medikamente Trevilor, Pipamperon und Mirtazapin.

Unter Berücksichtigung der individuellen Situation des Antragstellers und den Erkenntnissen des Bundesamtes, dass nicht alle benötigen Medikamente in Afghanistan verfügbar sind, war ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

In Anbetracht der Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erübrigt sich die Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG. Beide Anspruchsgrundlagen bilden einen einheitlichen Streitgegenstand (vgl. BVerwG, U. v. 08.09.2011, 10 C 14.10), die Rechtsfolgen sind gleichrangig und gleichartig, so dass auf Doppel-, Mehrfach- und Parallelprüfungen verzichtet werden kann. [...]