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Zitieren als:
BAMF, Bescheid vom 24.08.2015 - 5590457-150 - asyl.net: M23142
https://www.asyl.net/rsdb/M23142
Leitsatz:

Feststellung eines Abschiebungsverbots gem. § 60 ABs. 7 S. 1 AufenthG im Rahmen eines Wiederaufgreifensantrag aufgrund unbedingt behandlungsbedürftiger Erkrankung und zu hoher Behandlungskosten im Kosovo.

Schlagwörter: Kosovo, Krankheit, Wiederaufnahme, Wiederaufnahmegründe, erhebliche individuelle Gefahr, Behandlungskosten,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 1, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 2, VwVfG § 51 Abs. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Am 09.11.2012 stellte der Antragsteller mit Schriftsatz seines Verfahrensbevollmächtigten vom 07.11.2012 einen Wiederaufgreifensantrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG). Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass der Antragsteller multimorbid sei. Seit dem 20.09.2011 befinde er sich wegen eines Unfalls in dauerhafter Behandlung. Er leide unter folgenden Erkrankungen:

- Instabile Kompressionsfraktur (Typ B) des LWK 4 mit Teilverlegung des Spinalkanals bei Verkehrsunfall

- Untergewicht

- Rez. Uveitis

- Mikrozytäre hypochrome Anämie, unklare Ursache

- Chronifizierte Schmerzsymptomatik.

Wegen dieser Erkrankungen bedürfe er einer dauerhaften fachärztlichen Behandlung und regelmäßigen Physiotherapie. Zudem benötige er eine längerfristige Schmerztherapie. Der Antragsteller sei in seinem Alltagsleben eingeschränkt und könne keiner Arbeit nachgehen, da er nur eingeschränkt und zeitlich begrenzt sitzen und gehen könne.

Die notwendige medizinische Behandlung könne er im Kosovo, sofern sie überhaupt verfügbar ist, schon aus finanziellen Gründen nicht erhalten, da er dort als Sozialhilfeempfänger kaum genug Geld zur Existenzsicherung hätte und daher nicht noch für die medizinische Versorgung bezahlen könne. Deshalb lägen in seinem Falle die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.

In der Folgezeit blieb das Wiederaufgreifensverfahren wegen hohen Arbeitsaufkommens und einer Änderung von Bearbeitungszuständigkeiten lange Zeit unbearbeitet. Während dessen wurden weitere ärztliche Atteste für den Antragsteller vorgelegt, zuletzt das Attest des Dr. med. ... aus ... vom 08.01.2014. Aus diesem geht im Wesentlichen hervor, dass sich der Antragsteller dort seit August 2013 in der schmerztherapeutischen Behandlung wegen Schmerzen im Bereich LWS nach instabiler LWK 4 Fraktur nach Verkehrsunfall befindet. Wegen der Schmerzen bestehe eine leicht depressive Reaktion mit Schlafstörungen. Derzeit erhalte er eine analgetische Therapie mit Tilidin 100 und Novamintropfen. Wegen einer Magenblutung und einer Überreaktion auf dämpfende Medikamente erhalte er zudem Norspan (Buprenorphin) Pflaster sowie bei Bedarf 1 Hub Viani. Außerdem erhalte er Krankengymnastik.

Auf Grund des im Attest dargelegten medizinischen Behandlungsbedarfs wurde durch das Bundesamt am 28.10.2014 eine aktuelle Auskunft bei der Deutschen Botschaft Pristina hinsichtlich der Behandelbarkeit der Erkrankungen des Antragstellers und der in diesem Zusammenhang entstehenden Kosten eingeholt.

In der daraufhin eingegangenen Auskunft der Deutschen Botschaft Pristina vom 21.08.2015, Az.: RK 516.80 E-72/14, wird insoweit dargelegt, dass sowohl in öffentlichen, als auch in privaten medizinischen Einrichtungen eine physikalische Therapie, auch Training zum Skelettmuskelaufbau möglich ist. Sowohl in privaten als auch in öffentlichen medizinischen Einrichtungen kostet eine Sitzung 10 bis 20 Euro. Die angefragte medikamentöse Behandlung ist in Kosovo nur teilweise verfügbar.

Tilidin (Wirkstoff: Tilidin HCL und Naloxon HCL) ist in Kosovo nicht erhältlich.

Novamintropfen (Wirkstoff: Novaminsulfon) sind als Tabletten mit dem Namen Novalgin 10 für 50 Cent pro Stück erhältlich.

Norspan Pflaster (Wirkstoff: Buprenorphin) ist in Kosovo nicht erhältlich.

Viani (Wirkstoff: Fluticason und Salmeterol) ist als Seretide Spray von der Firma Glaxo erhältlich. Eine Verpackung mit 120 Sprüheinheiten kostet 60 Euro.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Akteninhalt verwiesen.

1. Dem Antrag wird entsprochen, es wird festgestellt, dass die Voraussetzungen gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich der Republik Kosovo vorliegen.

Hat das Bundesamt im früheren Asylverfahren bereits unanfechtbar festgestellt, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG nicht bestehen, so ist im Rahmen einer erneuten Befassung mit § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, die den § 53 Ausländergesetz ersetzt haben, im Wiederaufgreifensvertahren zunächst zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) vorliegen. Insoweit besteht ein Anspruch auf erneute Prüfung und Entscheidung.

Die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG sind vorliegend gegeben.

Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 VwVfG müssen sich entweder die Sach- oder Rechtslage zu Gunsten des Antragstellers geändert haben (Nr. 1) oder neue Beweismittel vorliegen, die eine für ihn günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (Nr. 2) oder Wiederaufnahmegründe nach § 580 Zivilprozessordnung (ZPO) bestehen (Nr. 3).

§ 51 Abs. 1 VwVfG fordert einen schlüssigen Sachvortrag, der nicht von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtung ungeeignet sein darf, zur Asylberechtigung oder Zuerkennung des internationalen Schutzes zu verhelfen (BVerfG, Beschluss vom 03.03.2000, 2 BvR 39/98, DVBl 2000, 1048-1050). Demzufolge ist ein schlüssiger Vortrag, der eine günstigere Entscheidung möglich erscheinen lässt, ausreichend.

Aufgrund der fristgerecht vorgelegten neuen ärztlichen Unterlagen kann sich der Vortrag des Antragstellers bei objektiver Beurteilung zu seinen Gunsten auswirken.

Die für den Wiederaufgreifensantrag angegebene Begründung führt zu einer für den Antragsteller günstigeren Entscheidung, weil nunmehr vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 60 Abs. 7 AufenthG bezüglich der Republik Kosovo auszugehen ist.

Von einer Abschiebung gemäß § 60 Abs. 7 AufenthG in einen anderen Staat soll abgesehen werden, wenn für den Ausländer eine erhebliche und konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (BVerwG, U. v. 13.01.2013, 10 C 15.12, Rdnr. 37).

Dabei kommt es nicht darauf an, von wem die Gefahr ausgeht und wodurch sie hervorgerufen wird. Es muss jedoch über die Gefahren hinaus, denen die Bevölkerung allgemein ausgesetzt ist, eine besondere Fallkonstellation gegeben sein, die als gravierende Beeinträchtigung die Schwelle der allgemeinen Gefährdung deutlich übersteigt (vgl. die insoweit auf § 60 Abs. 7 AufenthG übertragbaren Entscheidungen BVerwG, Urteile vom 29.11.1977, 1 C 33.71, BVerwGE 55, 82; vom 17.01.1989, 9 C 62.87, EZAR 201 Nr. 19; vom 30.10.1990, 9 C 60.89, BVerwGE 87, 52; vom 17.10.1995, 9 C 9.95, BVerwGE 99.324, und vom 23.08.1996, 9 C 144.95).

Eine erhebliche konkrete Gefahr i.S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG kann vorliegen, wenn die im Zielstaat drohende Beeinträchtigung in der Verschlimmerung einer Krankheit besteht, unter der der Ausländer bereits in der Bundesrepublik Deutschland leidet. Die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, ist in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen (vgl. BVerwG, B. v. 17.08.2011, 10 B 13.11 u.a.).

Für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist es erforderlich, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, B. v. 17.08.2011, a.a.O.)

Die Gefahr ist "erheblich" i. S. von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, wenn sich der Gesundheitszustand wesentlich oder gar lebensbedrohlich verändern würde und "konkret", wenn der Asylbewerber alsbald nach seiner Rückkehr in den Abschiebestaat in diese Lage käme, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten der Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 25.11.1997, 9 C 58.96, BVerwGE 105, 383).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist eine auf die Person des Antragstellers zu beziehende individuelle und konkrete Gefahrenlage nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

Ausweislich der vorgelegten ärztlichen Unterlagen benötigt der Antragsteller neben einer dauerhaften fachärztlichen Behandlung und regelmäßigen Physiotherapie zudem eine längerfristige Schmerztherapie. Der Antragsteller sei in seinem Alltagsleben eingeschränkt und könne keiner Arbeit nachgehen, da er nur eingeschränkt und zeitlich begrenzt sitzen und gehen könne. Ein Behandlungsabbruch würde aller Wahrscheinlichkeit nach dazu führen, dass der Ausländer unter massiven Schmerzen leiden und sich nicht mehr selbstständig fortbewegen könnte.

Diesen Gefahren kann ausweislich der eingeholten Auskunft der Deutschen Botschaft Pristina vom 21.08.2015, Az.: RK 516.80 E-72/14, aber nicht in dem erforderlichen Umfang begegnet werden bzw. die Kosten für Behandlung und Medikamente sind so hoch, dass sie für den Antragsteller nicht finanzierbar sind. Daher ist im vorliegenden Fall ein Abschiebungsverbot gemäß 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.

In Anbetracht der Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erübrigt sich die Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG. Beide Anspruchsgrundlagen bilden einen einheitlichen Streitgegenstand (vgl. BVerwG, U. v. 08.09.2011, 10 C 14.10), die Rechtsfolgen sind gleichrangig und gleichartig, so dass auf Doppel-, Mehrfach- und Parallelprüfungen verzichtet werden kann. [...]