VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Beschluss vom 01.09.2015 - 10 L 285/15.A - asyl.net: M23156
https://www.asyl.net/rsdb/M23156
Leitsatz:

Durch neuere Erkenntnisse ergeben sich ernst zu nehmende Anhaltspunkte, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn derzeit systemische Mängel aufweisen, aufgrund derer die Antragstellerin konkrete Gefahr läuft, im Falle einer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden.

Schlagwörter: Ungarn, Aufnahmebedingungen, systemische Mängel, unmenschliche Behandlung, erniedrigende Behandlung, Dublinverfahren,
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

2. Bei Anlegung dieses Maßstabs ergeben sich aus den dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnissen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Ungarn derzeit systemische Mängel aufweisen, aufgrund derer die Antragstellerin konkrete Gefahr läuft, im Falle ihrer Überstellung nach Ungarn einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. Art. 4 GR-Charta bzw. des Art. 3 EMRK ausgesetzt zu werden (vgl. VG Münster, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 2 L 858/15.A -, juris Rn. 7 ff.; VG München, Beschluss vom 17. Juli 2015 - M 24 S 15.50508 -, Abdruck S. 10 ff.; VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 6 ff.; VG Kassel, Beschluss vom 24. Juli 2015 - 6 L 1147/15.KS.A -, Abdruck S. 7 ff.; VG Saarlouis, Beschluss vom 5. August 2015 - 3 L 633/15 -, juris Rn. 14 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. August 2015 - 22 L 616/15.A -, nrwe Rn. 16 ff.; VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 7. August 2015 - VG 3 L 169/15.A -, Abdruck S. 7 ff., VG Kassel, Beschluss vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 23 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 20. August 2015 - 15 L 2556/15.A -, nrwe Rn. 25 ff.; a.A. VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juli 2015 - 8 L 1895/15.A -, nrwe Rn. 50 ff.; VG Augsburg, Urteil vom 3. August 2015 - Au 5 K 15.50347 -, juris Rn. 39 ff.; VG Minden, Beschluss vom 14. August 2015 - 1 L 766/15.A -, Abdruck S. 6 ff.).

a) Es liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass bestimmten Gruppen von Asylbewerbern im Falle einer Ablehnung ihres Asylantrags in Ungarn kein effektiver Rechtsschutz gewährt wird. Einem Bericht des Hungarian Helsinki Committee zufolge sind Klagen gegen Bescheide, mit denen ein Asylantrag als unzulässig abgelehnt wurde, und Klagen gegen Bescheide, mit denen ein Asylantrag in dem ab dem 1. August 2015 neu eingeführten beschleunigten Verwaltungsverfahren abgelehnt wurde, innerhalb von drei Kalendertagen zu erheben (vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence - Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 4). Dasselbe gilt für die Klage gegen einen Dublin-Bescheid, mit dem die Abschiebung in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verfügt wird (vgl. Asylum Information Database (aida), Country Report Hungary, 17. Februar 2015, S. 21).

Allerdings reicht die Kürze der Klagefrist allein nicht aus, um die Gewährung effektiven Rechtsschutzes zu verneinen. Vielmehr sind sämtliche Voraussetzungen der Klageerhebung zu würdigen. Insoweit ist insbesondere von Belang, bei welcher Behörde bzw. welchem Gericht eine Klage zu erheben ist, welche Kosten damit verbunden sind, in welcher Sprache die Klageschrift zu verfassen ist und ob ggf. die Hilfe eines Übersetzers in Anspruch genommen werden kann, ob die Klagebegründung ebenfalls innerhalb der Frist einzureichen ist sowie ob und zu welchen Kosten ein Rechtsbeistand in Anspruch genommen werden kann (vgl. EGMR, Urteil vom 2. Februar 2012 - 9152/09 (I.M./Frankreich) -, HUDOC, S. 3 f. der deutschen Zusammenfassung des Urteils). Die Klärung dieser Umstände muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben.

b) Ferner liegen ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Möglichkeiten, Asylbewerber zu inhaftieren, aufgrund der am 1. August 2015 in Kraft getretenen Änderungen des ungarischen Asylrechts wesentlich ausgeweitet wurden. Unklar ist nach den dem Gericht vorliegenden Unterlagen allerdings, wie weit diese Änderungen im Einzelnen gehen. Nach Darstellung des Hungarian Helsinki Committee wurde die Dauer der Asylhaft ("asylum detention") auf die Dauer des gerichtlichen Verfahrens erstreckt und ein neuer Haftgrund eingeführt, wonach eine Inhaftierung nunmehr auch im Falle einer ernstlichen Gefahr des Untertauchens ("serious danger of absconding") eines Asylbewerbers möglich sein soll (vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence - Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 5).

Dagegen berichtet UNHCR über die Zulässigkeit einer anhaltenden Inhaftierung von Asylsuchenden ("prolonged detention of asylum-seekers"), ohne näher auf die Voraussetzungen für eine Inhaftierung einzugehen (vgl. UNHCR, UNHCR urges Hungary not to amend asylum system in haste, 3. Juli 2015).

Andere Beobachter sprechen davon, dass Asylbewerber künftig wieder - wie bereits bis 2012 üblich - für die Dauer der Antragsbearbeitung inhaftiert werden können (vgl. Die Welt vom 6. Juli 2015, Ungarn zieht Grenzzaun gegen Flüchtlinge hoch). Für Letzteres sprechen auch Äußerungen des Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei Fidesz, Antal Rogan, der sich für eine Rückkehr zur bis 2012 geltenden Rechtslage aussprach (vgl. Hungarian Helsinki Committee, Hungarian government reveals plans to breach EU asylum law and to subject asylum seekers to massive detention and immediate deportation, 4. März 2015, S. 4 (Übersetzung durch das Gericht): "... Wir mussten das (Anmerkung des Gerichts: die bis 2012 geltende Rechtslage) wegen der EU ändern und es ist offensichtlich, dass die EU, wenn wir zu den Regeln, die vor 2012 galten, zurückkehren - was wir wirklich wollen -, ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren anstrengen wird. ...").

Die Klärung der Fragen, ob mit den jüngsten Änderungen tatsächlich eine Rückkehr zur bis 2012 geltenden Rechtslage erfolgt ist und inwieweit von den gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten tatsächlich Gebrauch gemacht wird, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

c) Vor dem Hintergrund stark gestiegener Zugangszahlen liegen zudem ernst zu nehmende Anhaltspunkte dafür vor, dass die ungarischen Behörden derzeit nicht mehr in der Lage sind, Asylbewerber angemessen mit Unterkunft, Nahrung, Kleidung und sonstigem täglichen Bedarf (vgl. Art. 2 lit. g) und 17 Abs. 2 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013, ABl. L 180, S. 96; sog. Aufnahmerichtlinie) zu versorgen und ihnen zumindest eine medizinische Notversorgung (vgl. Art. 19 RL 2013/33/EU) zukommen zu lassen (vgl. VG Münster, Beschluss vom 7. Juli 2015 - 2 L 858/15.A -, juris Rn. 7 ff; VG München, Beschluss vom 17. Juli 2015 - M 24 S 15.50508 -, Abdruck S. 10 ff.; VG Kassel, Beschlüsse vom 24. Juli 2015 - 6 L 1147/15.KS.A -, Abdruck S. 7 ff., sowie vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 23 ff.; a.A. VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 6 ff.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 7. August 2015 - 22 L 616/15.A -, nrwe Rn. 29).

Die Zahl der in Ungarn gestellten Asylanträge hat sich zwischen 2012 (2.157) und 2014 (knapp 43.000) fast verzwanzigfacht (vgl. Hungarian Helsinki Committee, Hungarian Government reveals Plans to breach EU asylum law and to subject asylum seekers to massive detention and immediate deportation, 4. März 2015, S. 1).

Im ersten Halbjahr 2015 sind bereits knapp 67.000 Asylanträge in Ungarn gestellt worden (vgl. ec.europa.eu/eurostat/[...]).

Dem stehen insgesamt knapp 2.000 Aufnahmeplätze in offenen und knapp 500 Aufnahmeplätze in geschlossenen Einrichtungen gegenüber. Allerdings ist bei dieser Gegenüberstellung zu berücksichtigen, dass etwa 80 bis 90 % der Asylbewerber Ungarn nicht als Ziel ihrer Flucht, sondern nur als Transitland betrachten und Ungarn bereits nach kurzer Zeit, oftmals bereits nach mehreren Tagen, wieder verlassen (vgl. European Asylum Support Office (EASO), Description of the Hungarian asylum system, 4. Juni 2015, S. 7, 10 und 11).

Folglich kann aus dem auf den ersten Blick bestehenden Missverhältnis zwischen der Anzahl der Asylbewerber und der Anzahl der Unterbringungsplätze nicht ohne Weiteres auf einen gravierenden Kapazitätsengpass geschlossen werden (vgl. VG Potsdam, Beschluss vom 20. Juli 2015 - VG 6 L 356/15.A -, Abdruck S. 5.; a.A. z.B. VG Kassel, Beschluss vom 7. August 2015 - 3 L 1303/15.KS.A -, juris Rn. 27). Dementsprechend berichtet das European Asylum Support Office, dass die Unterbringungsplätze noch im März 2015 lediglich zu 60 bis 70 % ausgelastet waren (vgl. EASO, Description of the Hungarian Asylum System, 4. Juni 2015, S. 10).

Jedoch hat sich die ungarische Regierung im Juni 2015 selbst darauf berufen, dass Ungarn keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen könne, weil die dortigen Aufnahmekapazitäten erschöpft seien (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 23. Juni 2015, Ungarn schottet sich ab, und vom 24. Juni 2015, Ungarn relativiert Aufnahmestopp für Asylsuchende; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24. Juni 2015, Ungarn nimmt keine Flüchtlinge mehr auf; Die Welt vom 24. Juni 2015, Warum Ungarn Angst vor zu vielen Asylbewerbern hat). Aktuelle Berichte über die Zustände in ungarischen Flüchtlingslagern scheinen die Einschätzung der ungarischen Regierung zu bestätigen (Budapest Beacon vom 19. August 2015, Migration aid needs food, blankets and foam mattresses, sowie vom 25. Juli 2015, Hungary's Vamosszabadi refugee camp dangerously overcrowded).

Anhaltspunkte dafür, dass die ungarischen Behörden ihre Aufnahmekapazitäten zwischenzeitlich aufgestockt haben oder entsprechende Planungen erfolgen, lassen sich den dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen.

Die weitere Klärung aller damit zusammenhängenden Fragen bleibt ebenfalls dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

d) Eine weitere zum 1. August 2015 in Kraft getretene Änderung des ungarischen Asylrechts beinhaltet den Erlass einer Regierungsverordnung, mit der u.a. Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mazedonien, Montenegro und Serbien zu sicheren Drittstaaten erklärt werden. Asylanträge von Personen, die über eines dieser Länder nach Ungarn eingereist sind, sind als unzulässig abzuweisen. Dies betrifft nach Einschätzung des Hungarian Helsinki Committee 99 % aller nach Ungarn eingereisten Asylbewerber, da diese vorliegenden Erkenntnissen zufolge derzeit nahezu ausschließlich über Serbien nach Ungarn einreisen (vgl. Hungarian Helsinki Committee, Building a legal fence - Changes to Hungarian asylum law jeopardise access to protection in Hungary, 7. August 2015, S. 1 f.; Asylum Information Database (aida), Hungary adopts list of safe countries of origin and safe third countries, 23. Juli 2015).

Von dieser Änderung ist die Antragstellerin allerdings nicht betroffen, da sie nach ihren wiederholten Angaben über Italien nach Ungarn eingereist ist. [...]