VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 14.08.2015 - 11 B 2162/15 - asyl.net: M23169
https://www.asyl.net/rsdb/M23169
Leitsatz:

Im Umverteilungsverfahren nach § 15a AufenthG hat es ein der Kernfamilie vergleichbares Gewicht, wenn ein erwachsenes Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen erwachsenen Familienmitglieds besonders angewiesen ist.

Schlagwörter: Haushaltsgemeinschaft, familiäre Lebensgemeinschaft, Verteilungsverfahren, familiäre Beistandsgemeinschaft, Umverteilung, Sonstige Familienangehörige, Lebenshilfe,
Normen: § 15a AufenthG, Art. 6 GG
Auszüge:

[...]

Die Antragsteller machen im Wesentlichen geltend, dass die Antragstellerin zu 1) wegen ihres insulinpflichtigen Diabetes Mellitus auf die Unterstützung des ebenfalls in … lebenden volljährigen Sohnes ... angewiesen sei. Insbesondere müsse dieser dafür Sorge tragen, dass sie rechtzeitig mit den erforderlichen Medikamenten versorgt werde.

Die Antragsteller hatten im angeführten maßgeblichen Zeitpunkt den hierfür erforderlichen Nachweis jedoch nicht geführt insbesondere kein aussagekräftiges ärztliches Attest vorgelegt.

Im Rahmen der nach § 15a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu treffenden Ermessenentscheidung ("können"), für deren Beurteilung nach allgemeinen Grundsätzen der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung maßgeblich ist (für Wohnsitzauflagen vgl. BVerwG. Urteil vom 15. Januar 2013 - 1 C 7.12 - InfAuslR 2013, 214, Rn. 9; vgl. auch OVG Bremen, a.a.O., Rn. 26, das in diesen Fällen ein Vollstreckungshindernis annimmt), hat der Antragsgegner jedoch zusätzlich die für und gegen eine Weiterleitung der Antragstellern sprechenden Gesichtspunkte fehlerfrei abzuwägen. Zu berücksichtigen sind hierbei die Interessen des betroffenen Ausländers, aber auch das Interesse eines effektiven Verwaltungsablaufs. In die Ermessenserwägung ist insbesondere einzustellen, ob einiges dafür spricht, dass der betroffene Ausländer in absehbarer Zeit ohnehin wieder dem Zuständigkeitsbereich der Ausländerbehörde, die die Weiterleitung betreiben möchte, zugewiesen werden müsste (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 30. März 2006 - 3 TG 556/06 -, juris Rn. 4; VG Oldenburg, Beschluss vom 1. November 2013 - 11 B 6467/13 - juris).

Es spricht im insoweit maßgeblichen Zeitpunkt viel dafür, dass die Antragstellerin auf die Unterstützung ihres Sohnes angewiesen ist. Dies hat der Antragsgegner, der dies in Abrede stellt, nicht ermessensfehlerfrei gewürdigt.

Denn ausweislich der amtsärztlichen Stellungnahme vom 10. August 2015, welche allerdings nicht auf einer persönlichen Untersuchung beruht, ist die Antragstellerin zu 1) nicht in der Lage, ihren Blutzuckerspiegel selbst zu überwachen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu ziehen. Dies ergebe sich aus den mit dem Benzodiazepingebrauch möglicherweise verbundenen quantitativen und qualitativen Bewusstseinsstörungen.

Der Antragsteller zu 2) ist nach der genannten amtsärztlichen Stellungnahme nicht geeignet, den Blutzuckerspiegel der Antragstellerin zu 1) zu überwachen und die Verantwortung für die hochdifferente, stark wirksame und potentiell mit lebensgefährlichen Komplikationen behaftete Behandlung zu übernehmen.

Der Antragsgegner geht allerdings davon aus, dass der Antragsteller zu 2) sich entgegen seinen ehelichen Beistandspflichten weigere, die Antragstellerin zu 1) zu unterstützen. Er verweist insoweit auf das amtsärztliche Gutachten vom 10. August 2015. In diesem wird dies aber zum einen nur als eine Ursache ("zumal") der fehlenden Fähigkeit zur Unterstützung beschrieben. Zum anderen ist die Einschätzung auch nicht hinreichend mit Tatsachen belegt, weil sie lediglich mit den "originären Eigeninteressen", gemeint ist offenbar ein Erfolg im hier zu beurteilende Verfahren, begründet wird. Sonstige konkrete Anhaltspunkte für die Beurteilung sind dagegen nicht dargelegt worden. Darüber hinaus ist nachvollziehbar vorgetragen worden, dass der Antragsteller zu 2) an Bluthochdruck und Herzproblemen leide und deshalb selbst mehrfach täglich Medikamente einnehmen müsse. Dem ist in der genannten amtsärztlichen Stellungnahme dagegen nicht weiter nachgegangen worden.

Soweit in der amtsärztlichen Stellungnahme vom 10. August 2015 darauf verwiesen wird, dass die erforderliche Unterstützung der Antragstellerin zu 1) auch durch Dritte möglich und sogar üblich wäre und deshalb die Betreuung durch den Sohn nicht zwingend sei, vermag dies eine andere rechtliche Beurteilung nicht zu rechtfertigen. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass es im Hinblick auf die aufenthaltsrechtlichen Schutzwirkungen des Art. 6 GG nicht darauf ankommt, dass Betreuungsleistungen auch von anderen Personen außerhalb der Familie erbracht werden können, es sei denn die aufenthaltsrechtliche Gestaltung ist rechtsmissbräuchlich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. November 2011 - 2 BvR 2625/10 - juris, Rn, 15; OVG Lüneburg, Beschluss vom 23. Januar 2013 - 8 LA 226/12 - juris, Rn. 12 jeweils m.w.N.). [...]