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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 15.09.2015 - C-67/14 (Alimanovic gegen Deutschland) (= ASYLMAGAZIN 10/2015, S. 355 ff.) - asyl.net: M23179
https://www.asyl.net/rsdb/M23179
Leitsatz:

Arbeitssuchende EU-Bürger können von Sozialleistungen ausgeschlossen werden:

"Art. 24 der Richtlinie 2004/38/EG [Unionsbürgerrichtlinie] und Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 [zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit] sind dahin auszulegen, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfassten Situation befinden, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten."

(Amtlicher Leitsatz)

Anmerkung:

Schlagwörter: Alimanovic, Gleichbehandlungsgebot, Leistung zur Sicherung des Lebensunterhalts, Familienangehörige, freizügigkeitsberechtigt, Aufenthaltsrecht, Arbeitssuchende, Sozialhilfe, individuelle Prüfung,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1, SGB II § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2, AEUV Art. 18, VO Nr. 883/2004 Art. 4, VO Nr. 883/2004 Art. 70, RL 2004/38 Art. 7 Abs. 1, RL 2004/38 Art. 7 Abs. 3, RL 2004/38 Art. 14
Auszüge:

Zur Einstufung der streitigen Leistungen

40      Ausweislich der dem Gerichtshof übermittelten Akten geht das vorlegende Gericht davon aus, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita ein Aufenthaltsrecht als Arbeitsuchende haben und dass es durch die diesbezüglichen Tatsachenfeststellungen des Tatsachengerichts gebunden ist.

41      Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage möchte das vorlegende Gericht vom Gerichtshof wissen, ob eine nationale Regelung, die arbeitsuchende Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten vom Bezug bestimmter Leistungen ausschließt, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten, mit Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 sowie mit Art. 18 AEUV und Art. 45 Abs. 2 AEUV vereinbar ist.

42      Anhand welcher Regel die entsprechende Vereinbarkeit zu beurteilen ist, hängt davon ab, ob sie als Leistungen der Sozialhilfe oder als Maßnahmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, einzustufen sind; daher ist ihre Einstufung erforderlich.

43      Insoweit genügt jedoch die Feststellung, dass das vorlegende Gericht selbst die im Ausgangsverfahren streitigen Leistungen als „besondere beitragsunabhängige Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004 eingestuft hat. Es führt insoweit aus, dass diese Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts von Personen dienten, die ihn nicht selbst bestreiten könnten, und beitragsunabhängig durch Steuermittel finanziert würden. Da die betreffenden Leistungen auch in Anhang X der Verordnung Nr. 883/2004 erwähnt werden, erfüllen sie die Voraussetzungen von Art. 70 Abs. 2 dieser Verordnung, selbst wenn sie Teil eines Systems sind, das außerdem Leistungen zur Erleichterung der Arbeitsuche vorsieht.

44      Unbeschadet dessen ist darauf hinzuweisen, dass solche Leistungen nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs auch unter den Begriff „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 fallen. Dieser Begriff bezieht sich nämlich auf sämtliche von öffentlichen Stellen eingerichteten Hilfssysteme, die auf nationaler, regionaler oder örtlicher Ebene bestehen und die ein Einzelner in Anspruch nimmt, der nicht über ausreichende Existenzmittel zur Bestreitung seiner Grundbedürfnisse und derjenigen seiner Familie verfügt und deshalb während seines Aufenthalts möglicherweise die öffentlichen Finanzen des Aufnahmemitgliedstaats belasten muss, was geeignet ist, sich auf das gesamte Niveau der Beihilfe auszuwirken, die dieser Staat gewähren kann (Urteil Dano, C?333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 63).

45      Im vorliegenden Fall ist im Übrigen festzustellen, dass – wie der Generalanwalt in Nr. 72 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – die überwiegende Funktion der in Rede stehenden Leistungen gerade darin besteht, das Minimum an Existenzmitteln zu gewährleisten, das erforderlich ist, um ein Leben zu führen, das der Menschenwürde entspricht.

46      Aus diesen Erwägungen ergibt sich somit, dass die betreffenden Leistungen nicht als finanzielle Leistungen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern sollen, eingestuft werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil Vatsouras und Koupatantze, C?22/08 und C?23/08, EU:C:2009:344, Rn. 45), sondern als „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 anzusehen sind, wie der Generalanwalt in den Nrn. 66 bis 71 seiner Schlussanträge festgestellt hat.

47      Daher ist die dritte Vorlagefrage nicht zu beantworten.

 Zur zweiten Frage

48      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats Arbeit suchen, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.

49      Insoweit ist zunächst darauf hinzuweisen, dass ein Unionsbürger hinsichtlich des Zugangs zu Sozialleistungen wie den im Ausgangsverfahren streitigen eine Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats nach Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 nur verlangen kann, wenn sein Aufenthalt im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 erfüllt (Urteil Dano, C?333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 69).

50      Ließe man nämlich zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem im zehnten Erwägungsgrund dieser Richtlinie genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern (Urteil Dano, C?333/13, EU:C:2014:2358, Rn. 74).

51      Um feststellen zu können, ob Sozialhilfeleistungen wie die streitigen Leistungen auf der Grundlage der Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 verweigert werden dürfen, muss daher vorab geprüft werden, ob der Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 24 Abs. 1 dieser Richtlinie anwendbar ist, und damit, ob sich der betreffende Unionsbürger rechtmäßig im Gebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält.

52      Nur zwei Bestimmungen der Richtlinie 2004/38 kommen in Betracht, Arbeitsuchenden in der Situation von Frau Alimanovic und ihrer Tochter Sonita möglicherweise ein Aufenthaltsrecht im Aufnahmemitgliedstaat nach dieser Richtlinie zu verleihen, nämlich ihr Art. 7 Abs. 3 Buchst. c und ihr Art. 14 Abs. 4 Buchst. b.

53      Nach Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 bleibt einem Erwerbstätigen, wenn er sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags oder bei im Laufe der ersten zwölf Monate eintretender unfreiwilliger Arbeitslosigkeit dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellt, seine Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate aufrechterhalten. Während dieses Zeitraums behält der betreffende Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat sein Aufenthaltsrecht nach Art. 7 dieser Richtlinie und kann sich folglich auf das in ihrem Art. 24 Abs. 1 verankerte Gleichbehandlungsgebot berufen.

54      Dementsprechend hat der Gerichtshof im Urteil Vatsouras und Koupatantze (C?22/08 und C?23/08, EU:C:2009:344, Rn. 32) entschieden, dass Unionsbürger, die die Erwerbstätigeneigenschaft gemäß Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 behalten haben, während des genannten Zeitraums von mindestens sechs Monaten Anspruch auf Sozialhilfeleistungen wie die streitigen Leistungen haben.

55      Wie der Generalanwalt in Nr. 41 seiner Schlussanträge darlegt, ist indessen unbestritten, dass Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita, denen die Erwerbstätigeneigenschaft für mindestens sechs Monate nach dem Ende ihrer letzten Beschäftigung erhalten blieb, diese Eigenschaft zu dem Zeitpunkt, zu dem ihnen die Gewährung der streitigen Leistungen versagt wurde, nicht mehr besaßen.

56      Hinsichtlich der Frage, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 für Unionsbürger, die sich in der Situation von Frau Alimanovic und ihrer Tochter Sonita befinden, ein Aufenthaltsrecht nach dieser Richtlinie begründen kann, ist dieser Vorschrift zu entnehmen, dass ein Unionsbürger, der in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist ist, um Arbeit zu suchen, nicht ausgewiesen werden darf, solange er nachweisen kann, dass er weiterhin Arbeit sucht und eine begründete Aussicht hat, eingestellt zu werden.

57      Zwar können Frau Alimanovic und ihre Tochter Sonita dem vorlegenden Gericht zufolge aus dieser Vorschrift auch nach Ablauf des in Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 genannten Zeitraums für die Dauer des von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie abgedeckten Zeitraums ein Aufenthaltsrecht ableiten, das ihnen einen Anspruch auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats hinsichtlich des Zugangs zu Sozialhilfeleistungen verschafft; der Aufnahmemitgliedstaat kann sich in diesem Fall aber auf die Ausnahmebestimmung von Art. 24 Abs. 2 dieser Richtlinie berufen, um dem betreffenden Unionsbürger die beantragte Sozialhilfe nicht zu gewähren.

58      Aus der in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 vorgenommenen Verweisung auf deren Art. 14 Abs. 4 Buchst. b ergibt sich nämlich ausdrücklich, dass der Aufnahmemitgliedstaat einem Unionsbürger, dem ein Aufenthaltsrecht allein aufgrund der letztgenannten Vorschrift zusteht, jegliche Sozialhilfeleistung verweigern darf.

59      Zwar hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Mitgliedstaat die persönlichen Umstände des Betreffenden berücksichtigen muss, wenn er eine Ausweisung veranlassen oder feststellen will, dass diese Person im Rahmen ihres Aufenthalts dem Sozialhilfesystem eine unangemessene Belastung verursacht (Urteil Brey, C?140/12, EU:C:2013:565, Rn. 64, 69 und 78); eine solche individuelle Prüfung ist aber bei einer Fallgestaltung wie der des Ausgangsverfahrens nicht erforderlich.

60      Die Richtlinie 2004/38, die ein abgestuftes System für die Aufrechterhaltung der Erwerbstätigeneigenschaft schafft, das das Aufenthaltsrecht und den Zugang zu Sozialleistungen sichern soll, berücksichtigt nämlich selbst verschiedene Faktoren, die die jeweiligen persönlichen Umstände der eine Sozialleistung beantragenden Person kennzeichnen, insbesondere die Dauer der Ausübung einer Erwerbstätigkeit.

61      Das Kriterium, auf das sowohl § 7 Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 2 Abs. 3 FreizügG/EU als auch Art. 7 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2004/38 abstellen, nämlich ein Zeitraum von sechs Monaten nach Beendigung einer Erwerbstätigkeit, in dem der Anspruch auf Sozialhilfe aufrechterhalten bleibt, ermöglicht es den Betroffenen, ihre Rechte und Pflichten eindeutig zu erfassen; folglich ist es geeignet, bei der Gewährung von Sozialhilfeleistungen im Rahmen der Grundsicherung ein erhöhtes Maß an Rechtssicherheit und Transparenz zu gewährleisten, und steht zugleich im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

62      Was zudem die individuelle Prüfung angeht, mit der eine umfassende Beurteilung der Frage vorgenommen werden soll, welche Belastung die Gewährung einer Leistung konkret für das gesamte im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Sozialhilfesystem darstellen würde, ist festzustellen, dass die einem einzigen Antragsteller gewährte Hilfe schwerlich als „unangemessene Inanspruchnahme“ eines Mitgliedstaats im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38 eingestuft werden kann; eine solche Inanspruchnahme kann nämlich den betreffenden Mitgliedstaat nicht infolge eines einzelnen Antrags, sondern nur nach Aufsummierung sämtlicher bei ihm gestellten Einzelanträge belasten.

63      Nach alledem ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 24 der Richtlinie 2004/38 und Art. 4 der Verordnung Nr. 883/2004 dahin auszulegen sind, dass sie der Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegenstehen, nach der Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2004/38 erfassten Situation befinden, vom Bezug bestimmter „besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen“ im Sinne von Art. 70 Abs. 2 der Verordnung Nr. 883/2004, die auch eine Leistung der „Sozialhilfe“ im Sinne von Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 darstellen, ausgeschlossen werden, während Staatsangehörige des betreffenden Mitgliedstaats, die sich in der gleichen Situation befinden, diese Leistungen erhalten.