AG Heidelberg

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Zitieren als:
AG Heidelberg, Beschluss vom 21.07.2015 - 31 F 67/15 - asyl.net: M23200
https://www.asyl.net/rsdb/M23200
Leitsatz:

Fehlt es dem Jugendamt an eigener Sachkunde, um für einen unbegleiteten Minderjährigen im Rahmen der asyl- und aufenthaltsrechtlichen Lage zu agieren, ist ein Ergänzungspfleger zu bestellen.

Da die unionsrechtlichen Vorgaben die Qualifikation und Fachkenntnisse beim Vertreter selbst voraussetzen, reicht es nicht aus, dass dieser sich der fachkundigen Hilfe eines Dritten bedienen kann.

Schlagwörter: minderjährig, Vormundschaft, unbegleitete Minderjährige, Ergänzungspfleger, Vormund, Sachkunde, fehlende Sachkunde, Asylverfahren, Dublinverfahren, Aufnahmerichtlinie, Verfahrensrichtlinie, Unionsrecht,
Normen: VO 604/2013 Art. 6 Abs. 2, RL 2013/33/EU Art. 24 Abs. 1 S. 1, RL 2013/32/EU Art. 25 Abs. 1 Bst. b, BGB § 1909 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Soweit der BGH meint, eine fehlende juristische Sachkunde könne durch eine geeignete Rechtsberatung ausgeglichen werden, ist dies mit den unionsrechtlichen Anforderungen nicht vereinbar.

Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Dublin III-VO), die unmittelbar wirkt, schreibt vor, dass die Mitgliedstaaten dafür zu sorgen haben, "dass ein unbegleiteter Minderjähriger in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, von einem Vertreter vertreten und/oder unterstützt wird." Dieser Vertreter muss über die "entsprechenden Qualifikationen und Fachkenntnisse [verfügen], um zu gewährleisten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird."

Hieraus ergibt sich, entgegen der Ansicht des OLG Frankfurt (Beschl. v. 08.11.2013 - 2 UF 320/13 - FamRZ 2014, 502), dass der Vertreter selbst über die entsprechenden Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen muss (so auch AG Gießen, Beschl. v. 21.08.2013 - 249 F 1635/13 VM, 249 F 1717/13 PF - in Juris). Die genannten Vorschriften gehen davon aus, dass der Vertreter die Fähigkeiten besitzt, die erforderlich sind, um den Minderjährigen in den Verfahren zu vertreten. Bei den Verfahren nach der Dublin III-VO handelt es sich um solche zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, also um asyl- und ausländerrechtliche Fragestellungen. Der Vertreter muss entscheiden, ob der Minderjährige einen Asylantrag stellt, er muss die nach Art. 5 der Dublin III-VO vorgesehen Anhörung mit dem Minderjährigen vorbereiten, die Protokolle prüfen, ärztliche Unterlagen und Beweismittel in das Verfahren einführen und Fristen waren (vgl. Hocks, Europarechtliche Vorgaben für eine qualifizierte rechtliche Vertretung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen (UMF), Beitrag vom 24.01.2015 zur Tagung "Gerechtigkeit in der Migrationsgesellschaft - Hohenheimer Tage für Ausländerrecht 2015", S. 7 - abrufbar unter: downloads.akademie-rs.de/migration/152501_hocks_umf.pdf). Dies alles erfordert juristische Sachkenntnis. Liegen solche beim Vormund als Vertreter im Sinne des Art. 2 lit. k) der Dublin III-VO nicht vor, kann dieser seine Aufgabe nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung nicht wahrnehmen. Anders als es der BGH im Beschluss v. 04.12.2013 (a.a.O.) meint, ist die unionsrechtlich gebotene sachkundige Vertretung des unbegleiteten Minderjährigen folglich nicht grundsätzlich durch das Jugendamt gewährleistet.

Auch aus Art. 25 Abs. 1 lit. a) der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Verfahrens-Richtlinie) und aus Art. 24 Abs. 1 S. 1 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (Aufnahme-Richtlinie) folgt, dass die Mitgliedstaaten dem unbegleiteten Minderjährigen so schnell als möglich einen Vertreter zu bestellen haben, "damit dieser die rechte aus dieser Richtlinie in Anspruch nehmen und den sich aus dieser Richtlinie ergebenden Pflichten nachkommen kann". Art. 25 Abs. 1 lit. a) der Verfahrensrichtlinie schreibt darüber hinaus vor, dass der Vertreter seine Aufgabe im Interesse des Kindeswohls wahrnimmt und über die hierfür erforderliche Fachkenntnis verfügen muss. Nachdem die Frist zur Umsetzung am 20.07.2015 ohne Tätigwerden des Gesetzgebers verstrichen ist und da die entsprechenden Regelungen inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, gelten sie unmittelbar (st. Rspr., vgl. nur. EuGH, Urt. v. 19.11.1991, Rs. C-6/90 und C-9/90 - Francovich u.a. - Slg. 1991, I-5357 Rn. 11; Urt, v. 11.07.2002, Rs. C-62/00 - Marks & Spencer - Slg. 2002, I-6325 Rn. 25).

Die Verfahren nach der Verfahrens-Richtlinie betreffen die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes und somit ebenfalls asyl- und ausländerrechtliche Fragen. Auch hierbei sind nach Art. 7 der Verfahrens-Richtlinie Anträge zu stellen und vorzubereiten, Art. 14 der Verfahrens-Richtlinie sieht eine persönliche Anhörung vor. Ausweislich der Gründe Ziffer 29 soll die Vertretung gerade der Unterstützung zur Schaffung der Voraussetzungen eines effektiven Verfahrens und der Begründung des Antrags dienen. Die Aufgaben des Vertreters sind daher vergleichbar mit denen im Rahmen der Dublin III-VO, so dass auch hier juristische Fachkenntnisse erforderlich sind.

Setzen die unionsrechtliche Vorgaben aber die Qualifikation und Fachkenntnis beim Vertreter selbst voraus, reicht es entgegen dem BGH gerade nicht aus, dass dieser sich der fachkundigen Hilfe eines Dritten bedienen kann (so auch AG Gießen, Beschl. v. 21.08.2013, a.a.O.). Die erforderliche eigene Sachkenntnis kann nicht durch die Einschaltung eines externen Dritten herbeigeführt werden. Somit sind alle oben dargelegten Voraussetzungen für eine Verhinderung erfüllt.

Dem steht schließlich auch nicht Art. 25 Abs. 1 lit. b) der Verfahrens-Richtlinie entgegen. Dem BGH ist zwar zuzustimmen, dass der Vertreter hiernach gerade kein Rechtsanwalt sein muss (vgl. BGH, Beschl. v. 04.12.2013, a.a.O.). Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass der Vertreter selbst über die erforderlichen Kenntnisse verfügen muss. Auch andere Personen als Rechtsanwälte können hierüber verfügen, so dass als Vertreter eben auch eine andere Person als ein Rechtsanwalt in Betracht kommt, wenn sie denn die erforderlichen Sachkenntnisse aufweisen. Dies könnte zum Beispiel bei entsprechender Sachkunde der Amtsvormund selbst, ein besonders geschulter Mitarbeiter des Jugendamts oder eine sonstige Person sei, die von den zuständigen Behörden zu diesem Zweck geschult und zur Verfügung gestellt wird (vgl. OLG Frankfurt, Beschl. v. 17.06.2014 - 5 UF 112/14 - NJW-RR 2014, 1222 zur insoweit parallelen Frage der Mitvormundschaft).

Die Befürchtung eines Pflegschaftsbedürfnisses in "sehr vielen Fällen" rechtfertigt es nicht, die hier gegebene Konstellation aus dem Anwendungsbereich des § 1909 Abs. 1 BGB auszugrenzen. Darüber hinaus ist sie auch völlig unbegründet. Wie dargelegt beruht die Annahme einer Verhinderung in Fällen wie dem vorliegenden auf den unionsrechtlichen Vorgaben, die es gerade ausschließen, dass der Vormund sich fachspezifische Hilfe von Dritten einholt. Bei allen anderen Mängeln, die nicht die asyl- und ausländerrechtlichen Fragestellungen betreffen und für die die Verordnung und die Richtlinien daher nicht greifen, bleibt die Einholung der Hilfe Dritter möglich und zulässig und somit fehlt es in diesem Fällen an einer Verhinderung. Der hier vorliegende Fall ist folglich nicht mit "sehr vielen [anderen] Fällen" vergleichbar. Wenn der BGH unter die vielen Fälle nur solche mit asyl- und ausländerrechtlichen Bezug fasst, so wäre diese Auswirkung vor dem Hintergrund der unionsrechtlichen Bestimmungen hinzunehmen.

Soweit der BGH ausführt, die Ergänzungspflegschaft sei kein Mittel, dem Mündel Sozialleistungen zu verschaffen, ohne dass die Voraussetzungen der Bewilligung von Beratungs- oder Verfahrenskostenhilfe vorliegen, streift dies das hier zugrunde liegende Problem nur an Rande. Die im Vordergrund stehende Frage ist die nach der erforderlichen Qualifikation des Vertreters. Wie dargelegt, muss dieser, um den Minderjährigen seiner Aufgabe entsprechend hinreichend vertreten und im Verfahren begleiten zu können, selbst über juristische Fachkenntnisse auf diesen Gebieten verfügen. Sofern dies nicht der Fall ist, muss ein Ergänzungspfleger bestellt werden. Dies kann ein Rechtsanwalt aber auch jede andere fachkundige Person sein.

Auch das Unionsrecht geht im Grundsatz davon aus, dass der Betroffene für seine Rechtsberatung selbst aufkommen muss, wie sich aus Art. 22 der Verfahrens-Richtlinie und Art. 27 Abs. 6 Dublin III-VO ergibt. Für die Rechtsbehelfe sieht Art. 20 Abs. 1 Verfahrens-Richtlinie eine im Grundsatz unentgeltliche Rechtsberatung vor, wobei die Mitgliedstaaten nach Art. 21 Abs. 2 lit. a) der Verfahrens-Richtlinie hier Einschränkungen in Bezug auf die wirtschaftliche Situation vornehmen können. Dies entspricht insoweit dem deutschen System der Beratungs- und Verfahrenskostenhilfe. Diese Regelungen ändern jedoch nichts an dem Grundsatz, dass der Vertreter über die entsprechenden Kenntnisse verfügen muss. Sie sind vielmehr so zu verstehen, dass sie nur die Rechtsberatung umfassen, die außerhalb der Vertretung erfolgt, also insbesondere dann, wenn der fachkundige Vertreter nicht zugleich Rechtsanwalt ist. Dies sieht Art. 25 Abs. 1 lit. b) der Verfahrens-Richtlinie schließlich ausdrücklich vor.

Die Möglichkeit der Beratungs- und Prozess- bzw. Verfahrenskostenhilfe ist nicht geeignet, die durch Art. 6 Abs. 2 Dublin III-VO und Art. 25 der Verfahrens-Richtlinie an den Vertreter gestellten Anforderungen herabzusetzen (vgl. auch Riegner, NZFam 2014, 150, 153). [...]