VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 22.09.2015 - 6 B 1311/15 (= ASYLMAGAZIN 12/2015, S. 433 f.) - asyl.net: M23205
https://www.asyl.net/rsdb/M23205
Leitsatz:

Es ist zweifelhaft, ob es für einen eigenständigen Aufenthaltstitel gem. § 31 Abs. 2 S. 2, 2. Alt. AufenthG notwendig ist, dass der nachgezogene ausländische Ehegatte die Lebensgemeinschaft beendet hat.

Schlagwörter: Ehebestandszeit, unzumutbare Härte, Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft, eheliche Lebensgemeinschaft, eigenständiges Aufenthaltsrecht, eheunabhängiges Aufenthaltsrecht, besondere Härte,
Normen: AufenthG § 31 Abs. 2 S. 1, AufenthG § 31 Abs. 2 S. 2 2. Alt.,
Auszüge:

[...]

Der Senat lässt offen, ob der Ansicht des Verwaltungsgerichts Darmstadt zu folgen ist, wonach § 31 Abs. 2 Satz 1 und 2, 2. Alt. AufenthG regelmäßig voraussetzen soll, dass der nachgezogene ausländische Ehegatte die Lebensgemeinschaft aus eigener Initiative beendet hat (in diesem Sinne auch der 9. Senat des HessVGH, Beschluss vom 10.10.2005 - 9 TG 2403/05 -, AuAS 2005, 266; a.A. HessVGH, Beschluss vom 17.07.2007 - 7 TG 2908/06 -, AuAS 2007, 122). Dem Wortlaut der genannten Vorschriften lässt sich für die Auslegung im Sinne des Verwaltungsgerichts Darmstadt nichts entnehmen. Sinn und Zweck der Gesetzesbestimmung sprechen eher dagegen, die Gesetzesanwendung davon abhängig zu machen, welcher Ehegatte die Initiative zur Beendigung der Lebensgemeinschaft ergriffen hat. Mit § 31 Abs. 2 Satz 2, 2. Alt. AufenthG, wonach dem Ehegatten wegen der Beeinträchtigung seiner schutzwürdigen Belange das weitere Festhalten an der ehelichen Lebensgemeinschaft unzumutbar ist, verfolgt der Gesetzgeber den Zweck, dass ein ausländischer Ehegatte nicht wegen der Gefahr der Beeinträchtigung seines akzessorischen Aufenthaltsrechts auf Gedeih und Verderb zur Fortsetzung einer nicht tragbaren Lebensgemeinschaft gezwungen sein soll (in diesem Sinne sowohl der 9. Senat als auch der 7. Senat des HessVGH, jeweils a.a.O., unter Bezugnahme auf die Gesetzesmaterialien). Ein Ausschluss des nachgezogenen Ehegatten vom Erwerb eines eigenständigen Aufenthaltsrechts, weil er - trotz Vorliegens einer objektiv untragbaren Behandlung durch den Ehepartner - noch in der Ehe ausharrte, als dieser die eheliche Lebensgemeinschaft auflöste, könnte der beabsichtigten Begünstigung des physisch oder psychisch misshandelten Ehegatten zuwiderlaufen (in diesem Sinne der 7. Senat des HessVGH, a.a.O.).

Selbst dann, wenn man § 31 Abs. 2, 2. Alt. AufenthG die Auslegung des Verwaltungsgerichts zugrunde legte, lässt sich nach dem bisherigen Stand des Verfahrens nicht mit der erforderlichen Gewissheit feststellen, von wem die Initiative zur Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft ausgegangen ist. In der E-Mail des Ehemannes der Antragstellerin an die Ausländerbehörde vom 27. Mai 2014 (Bl. 82 Behördenakte) heißt es u.a. lange "habe ich gehofft dass meine Frau vernünftig wird und mit mir einen gemeinsamen Weg in eine gemeinsame Zukunft geht. Leider ist meine Bitte von ihr nicht erhört worden. ... Sie wohnt schon lange nicht mehr in unserer gemeinsamen Wohnung, sondern schläft nur noch hier um sich gegenüber der Behörde abzusichern. In letzter Zeit ist es einige Male vorgekommen, dass sie gar nicht nach Hause gekommen ist. ... Da ich nun ... dabei bin unsere Wohnung aufzulösen und zum 31. Mai 2014 in mein Elternhaus nach Sachsen-Anhalt zu ziehen, haben beide, meine Frau und ihr Arbeitgeber ein Problem. Würde sie mitziehen, was sie aber nicht tut, ... Bleibt meine Frau hier, würde sie zeigen, dass sie die eheliche Gemeinschaft endgültig verlassen will und meinen Wunsch zur Scheidung vielleicht erfüllen muss."

Hiernach ist nicht auszuschließen, dass die eheliche Lebensgemeinschaft auf Initiative der Antragstellerin beendet wurde. Darauf weist auch der Bevollmächtigte der Antragstellerin mit Schriftsatz vom 20. Juli 2015 hin und untermauert diese Position mit weitergehenden Ausführungen.

Die Antragstellerin hat in ihrer eidesstattlichen Versicherung vom 7. Mai 2015, die Eingang in die Akte des Klageverfahrens (6 K 720/15.DA) gefunden hat, auch Umstände geschildert, die - sollten sie der Wahrheit entsprechen - als eine besondere Härte i.S. des § 31 Abs. 2 Satz 1 und 2, 2. Alt. AufenthG anzusehen wären. So spricht die Antragstellerin in ihrer eidesstattlichen Versicherung davon, dass sie von ihrem Ehemann wiederholt geschlagen, sexuell genötigt und auch vergewaltigt worden sei. Sollten sich diese Behauptungen im Verlauf des Klageverfahrens als wahr bestätigen, so wäre die Antragstellerin ein Opfer häuslicher Gewalt. Dies stellt eine besondere Härte dar und gebietet es, von der Voraussetzung des dreijährigen rechtmäßigen Bestandes der ehelichen Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen.

Ob der Antragstellerin unabhängig von § 31 Abs. 1 und 2 AufenthG auch im Hinblick auf § 21 Abs. 1 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden könnte, muss im Rahmen des Beschwerdeverfahrens nicht entschieden werden.

Ist nach dem jetzigen Stand des Verfahrens offen, ob die Antragstellerin einen Anspruch auf Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis hat, so überwiegt vorliegend das private Interesse des Antragstellerin daran, vorläufig von Vollzugsmaßnahmen verschont zu bleiben, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides. Die Antragstellerin lebt inzwischen weit mehr als 3 Jahre in Deutschland. Nach ihren Angaben führt sie seit dem 2. Mai 2014 selbständig einen Massagesalon in einem gemieteten Ladenlokal in .... Die vorläufige Einnahmen-Überschuss-Rechnung für den Zeitraum 1. Mai - 31. Dezember 2014 weist laut dem Steuerberater einen Gewinn von 17.053,27 € aus. Das spricht dafür, dass die Antragstellerin mittlerweile ihren Lebensunterhalt ohne Zuhilfenahme Dritter bestreiten kann. Müsste die Antragstellerin jetzt die Bundesrepublik Deutschland verlassen und das Klageverfahren vom Ausland aus betreiben, so könnte sie ihre gewerbliche Tätigkeit nicht länger ausüben. Ob sie im Falle einer Rückkehr an diese selbständige gewerbliche Tätigkeit wieder anknüpfen könnte, ist ungewiss.

Vor diesem Hintergrund ist es angezeigt, die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der ausgesprochenen Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis anzuordnen. [...]