EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 01.10.2015 - C-290/14 (= ASYLMAGAZIN 11/2015, S. 398 f.) - asyl.net: M23222
https://www.asyl.net/rsdb/M23222
Leitsatz:

Die EU-Rückführungsrichtlinie ist dahin auszulegen, dass sie der Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen nicht entgegensteht, wenn der Drittstaatsangehörige nach einer Rückkehr in sein Heimatland unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut illegal einreist.

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, unerlaubte Einreise, Strafbarkeit, Freiheitsstrafe, unerlaubter Aufenthalt, Drittstaatsangehörige, Einreiseverbot, Rückführung, Rückführungsrichtlinie,
Normen: AEUV Art. 79, RL 2008/115/EG Art. 11 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

19 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen vorsieht, der nach einer im Rahmen eines früheren Rückkehrverfahrens erfolgten Rückkehr in sein Herkunftsland unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut illegal in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreist.

20 Zunächst ist festzustellen, dass sich die Richtlinie 2008/115 nur auf die Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger bezieht und somit nicht zum Ziel hat, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Folglich hindert sie einen Mitgliedstaat grundsätzlich nicht daran, in seinem Recht die erneute illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot als Straftat einzustufen und strafrechtliche Sanktionen vorzusehen, um von der Begehung derartiger Zuwiderhandlungen abzuschrecken und sie zu ahnden (vgl. entsprechend Urteile Achughbabian, C-329/11, EU:C:2011:807, Rn. 28, und Sagor, C-430/11, EU:C:2012:777, Rn. 31).

21 Nach ständiger Rechtsprechung darf ein Mitgliedstaat keine strafrechtliche Regelung anwenden, die die Verwirklichung der mit der Richtlinie 2008/115 verfolgten Ziele gefährden und die Richtlinie damit ihrer praktischen Wirksamkeit berauben könnte (Urteil Sagor, C-430/11, EU:C:2012:777, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

22 Die Richtlinie 2008/115 wurde auf der Grundlage von Art. 63 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. b EG erlassen (jetzt Art. 79 Abs. 2 Buchst. c AEUV), der den Erlass von Maßnahmen im Bereich der illegalen Einwanderung und des illegalen Aufenthalts vorsieht.

23 Wie sich aus den Erwägungsgründen 1 und 4 der Richtlinie 2008/115 im Licht von Art. 79 AEUV ergibt, ist die Einführung einer Rückkehrpolitik integraler Bestandteil der Entwicklung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik durch die Europäische Union, die u.a. die Verhütung und verstärkte Bekämpfung illegaler Einwanderung gewährleisten soll.

24 Art. 11 Abs. 1 der Richtlinie 2008/115 sieht vor, dass die zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten Rückkehrentscheidungen durch ein Einreiseverbot ergänzen können und in bestimmten Fällen müssen; dadurch soll dem 14. Erwägungsgrund der Richtlinie zufolge die Wirkung der einzelstaatlichen Rückführungsmaßnahmen europäischen Zuschnitt erhalten.

25 Die Richtlinie 2008/115 ist dahin auszulegen, dass sie die Mitgliedstaaten grundsätzlich nicht daran hindert, eine Regelung zu erlassen, mit der eine erneute illegale Einreise eines Drittstaatsangehörigen strafrechtlich geahndet wird.

26 Zwar würden nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die mit der Richtlinie 2008/115 eingeführten gemeinsamen Normen und Verfahren beeinträchtigt, wenn der betreffende Mitgliedstaat, nachdem er den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen festgestellt hat, vor der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung oder gar vor deren Erlass ein Strafverfahren durchführte, das zu einer Freiheitsstrafe während des Rückkehrverfahrens führen könnte, da ein solches Vorgehen die Abschiebung zu verzögern droht (vgl. in diesem Sinne Urteile El Dridi, C-61/11 PPU, EU:C:2011:268, Rn. 59, Achughbabian, C-329/11, EU:C:2011:807, Rn. 37 bis 39 und 45, sowie Sagor, C-430/11, EU:C:2012:777, Rn. 33).

27 Im Ausgangsstrafverfahren geht es jedoch um einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen, auf den die mit der Richtlinie 2008/115 eingeführten gemeinsamen Normen und Verfahren bereits angewandt wurden, um seinen ersten illegalen Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu beenden, und der unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreist.

28 Mithin unterscheiden sich die Umstände des Ausgangsverfahrens deutlich von denen der Rechtssachen, in denen die Urteile El Dridi (C-61/11 PPU, EU:C:2011:268) und Achughbabian (C-329/11, EU:C:2011:807) ergangen sind. In diesen Rechtssachen waren in den betreffenden Mitgliedstaaten gegen illegal aufhältige Drittstaatsangehörige erste Rückkehrverfahren anhängig.

29 Im Übrigen hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass die Richtlinie 2008/115 strafrechtlichen Sanktionen nicht entgegensteht, die nach den nationalen strafverfahrensrechtlichen Vorschriften gegen Drittstaatsangehörige verhängt werden, auf die das mit dieser Richtlinie geschaffene Rückkehrverfahren angewandt wurde und die sich ohne einen Rechtfertigungsgrund für ihre Nichtrückkehr illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten (Urteil Achughbabian, C-329/11, EU:C:2011:807, Rn. 48).

30 Daher sind die Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 2008/115 erst recht nicht daran gehindert, strafrechtliche Sanktionen gegen illegal aufhältige Drittstaatsangehörige vorzusehen, bei denen die Anwendung des durch die Richtlinie geschaffenen Verfahrens zu ihrer Rückführung geführt hat und die unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen.

31 Da die Situation des betreffenden Drittstaatsangehörigen, aufgrund deren die der erneuten illegalen Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorausgegangene Abschiebung erfolgte, aber in den Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115 fiel, ist die Verhängung einer strafrechtlichen Sanktionen wie der, um die es im Ausgangsverfahren geht, nur unter der Voraussetzung zulässig, dass das gegen den Drittstaatsangehörigen verhängte Einreiseverbot mit Art. 11 der Richtlinie im Einklang steht; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts.

32 Bei der Verhängung einer solchen strafrechtlichen Sanktion müssen zudem die Grundrechte, insbesondere diejenigen, die in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Achughbabian, C-329/11, EU:C:2011:807, Rn. 49), und gegebenenfalls das Genfer Abkommen, insbesondere dessen Art. 31 Abs. 1, in vollem Umfang gewahrt bleiben.

33 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2008/115 dahin auszulegen ist, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats, die die Verhängung einer Freiheitsstrafe gegen einen illegal aufhältigen Drittstaatsangehörigen vorsieht, der nach einer im Rahmen eines früheren Rückkehrverfahrens erfolgten Rückkehr in sein Herkunftsland unter Verstoß gegen ein Einreiseverbot erneut illegal in das Hoheitsgebiet dieses Staates einreist, grundsätzlich nicht entgegensteht. [...]