SG Hildesheim

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Zitieren als:
SG Hildesheim, Urteil vom 07.10.2015 - S 42 AY 1/12 - asyl.net: M23241
https://www.asyl.net/rsdb/M23241
Leitsatz:

Ein Verstoß gegen Mitwirkungspflichten liegt nicht vor, wenn Identitätspapiere vorgelegt werden, bei denen Zweifel an der Echtheit bestehen, die aber nicht eindeutig als Fälschung identifiziert werden können, da die Beweislast für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten die Behörde trägt.

Schlagwörter: Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, Beweislast, Rechtsmissbrauch, Echtheit, Identitätspapiere, Fälschung, Urkundenfälschung, Anspruchseinschränkung, Asylbewerberleistungsgesetz, Analogleistungen,
Normen: AufenthG § 82 Abs. 1, AufenthG § 48 Äbs. 3 S. 1, AufenthG § 48, AsylbLG § 2 Abs. 1, AsylbLG § 1a,
Auszüge:

[...]

Die Kläger haben einen Anspruch auf Bewilligung von privilegierten Leistungen für die Zeit vom 01. Juli 2006 bis zum 02. April 2012, dem Tag vor dem Ausscheiden aus dem Leistungsbezug.

Gemäß § 2 Absatz 1 AsylbLG ist abweichend von den §§ 3 bis 7 AsylbLG das SGB XII auf diejenigen Leistungsberechtigten entsprechend anzuwenden, die über eine Dauer von insgesamt 48 Monaten Leistungen nach § 3 erhalten haben und die Dauer ihres Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst haben.

Die Kläger sind aufgrund der Duldung gemäß § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) grundsätzlich gemäß § 1 Absatz 1 Nr. 4 AsylbLG und als vollziehbar ausreisepflichtige Person gemäß § 1 Absatz 1 Nr. 5 AsylbLG leistungsberechtigt.

Der Kläger haben die Vorbezugszeit von 48 Monaten erfüllt, die aufgrund von Art. 6 Absatz 2 Nr. 2 des Gesetzes zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (BGBl. I S.1970) mit Wirkung ab dem 28. August 2007 geändert wurde. Bereits zum 01. Juli 2006 hatten sie 48 Monate Grundleistungen bezogen, nachdem sie im März 2002 eingereist waren.

Die Kläger haben zur Überzeugung der Kammer die Dauer ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Bei der Beurteilung der Frage der Rechtsmissbräuchlichkeit ist auf die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet abzustellen (vgl. Grube/Wahrendorf, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 5. Auflage 2014, § 2 AsylbLG, Rd. 22; Hohm, in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm, Kommentar zum SGB XII und AsylbLG, 18. Auflage 2010, § 2 AsylbLG, Rd. 13).

Rechtsmissbräuchlich handelt nach den Urteilen des BSG vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AS 1/07 R und B 8 AY 9/07 R) und 02. Februar 2010 (B 8 AY 1/08 R) derjenige, der über die Nichtausreise hinaus sich sozialwidrig unter Berücksichtigung des Einzelfalls verhält, wobei auf eine objektive und eine subjektive Komponente abzustellen ist. Erforderlich ist der Vorsatz bezogen auf eine die Aufenthaltsdauer beeinflussende Handlung mit dem Ziel der Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Das bloße Unterlassen einer freiwilligen Ausreise trotz Zumutbarkeit genügt in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung (vgl. Urteil des BSG vom 08. Februar 2007 - B 9b AY 1/06 R -) nicht. Das LSG Niedersachsen-Bremen hatte bereits mit Urteil vom 20. Dezember 2005 - L 7 AY 40/05 - festgestellt, dass das Ausnutzen einer Duldung nicht rechtsmissbräuchlich sei und ein weiteres Verhaften hinzutreten müsse.

Darüber hinaus setzt das BSG nicht als Tatbestandsmerkmal voraus, dass das missbilligte Verhalten für die Dauer des Aufenthaltes kausal sein müsse, sondern legt eine abstrakt-generelle Betrachtungsweise zugrunde. Demnach muss der Missbrauchstatbestand auch nicht aktuell andauern oder fortwirken.

Hinzutreten muss nach der zitierten Rechtsprechung des BSG in objektiver Hinsicht ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten. Dabei dürfe der Ausländer sich nicht auf einen Umstand berufen, welchen er selbst treuwidrig herbeigeführt habe. Der Pflichtverletzung muss in diesem Kontext im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzipes unter Berücksichtigung des Einzelfalles ein erhebliches Gewicht zukommen. Dabei stellt das BSG klar, dass auch ein einmaliges Verhaften diese Rechtsfolge zeitigen könne. Rechtsmissbräuchliches Verhalten kann nicht durch eine zwischenzeitliche Integration ausgeräumt werden.

Als Beispiel nennt die Gesetzesbegründung unter anderem die Angabe einer falschen Identität oder die Vernichtung des Passes (BT-Drucks 15/420, Seite 121). Dabei erkennt das BSG als Ausnahmefall an, dass das Verhalten eine Reaktion oder vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates, bei welchem um Asyl nachgesucht wird, darstellt. Darüber nennt das BSG im Urteil vom 17. Juni 2008 (B 8/9b AY 1/07) auch die Weigerung an der Mitwirkung zur Passersatzbeschaffung als Grund für eine rechtsmissbräuchlich Beeinflussung, sofern eine gesetzliche Regelung für die Mitwirkungshandlung besteht.

Auf der subjektiven Seite setzt nach der zitierten höchstrichterlichen Rechtsprechung der Vorwurf der rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Dauer des Aufenthaltes im Bundesgebiet Vorsatz voraus.

Die Kläger haben zur Überzeugung der Kammer ihre Passlosigkeit nicht zu vertreten, weil sie mit dem syrischen Registerauszug ihren ausländerrechtlichen Mitwirkungspflichten hinreichend nachgekommen sind (§§ 82 Absatz 1, 48 Absatz 3 Satz 1 AufenthG).

Ein Ausländer ist nach § 82 Absatz 1 AufenthG verpflichtet ist, seine Belange und für ihn günstigen Umstände unter Angabe nachprüfbarer Umstände unverzüglich geltend zu machen und die erforderlichen Nachweise über seine persönlichen Verhältnisse, sonstige erforderliche Bescheinigungen und Erlaubnisse sowie sonstige erforderliche Nachweise, die er erbringen kann, unverzüglich zu erbringen. Bei der Beschaffung von Passersatzpapieren handelt es sich um eine Maßnahme, die in den Verantwortungsbereich des Leistungsberechtigten fällt. Ihn trifft die grundsätzliche Pflicht, ohne besondere Aufforderung zur Beschaffung von Passersatzpapieren tätig zu werden (vgl. Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) vom 13. Juli 2006 - 24 B 06.2158 -). Von der Verpflichtung des § 82 Absatz 1 AufenthG sind sämtliche zumutbaren Handlungen umfasst, wie zum Beispiel die Ausfüllung von Anträgen, Beibringung von Passbildern, Vorsprachen bei der diplomatischen Vertretung des Heimatstaates oder der Beschaffung von Dokumenten im Heimatland (vgl. Albrecht, in: Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Auflage 2008, § 82 AufenthG, Rd. 4). Gemäß § 48 Absatz 3 Satz 1 AufenthG ist der Ausländer, sofern er keinen Pass oder Passersatz besitzt, verpflichtet, an der Beschaffung des Identitätspapieres mitzuwirken und alle Urkunden und sonstigen Unterlagen, die für die Feststellung seiner Identität und Staatsangehörigkeit und für die Feststellung und Geltendmachung einer Rückführungsmöglichkeit in einen anderen Staat von Bedeutung, sein können und in deren Besitz er ist, den mit der Ausführung dieses Gesetzes betrauten Behörden auf Verlangen vorzulegen, auszuhändigen und zu überlassen.

Dies zugrunde gelegt, liegt ein Verstoß gegen die Mitwirkungspflichten nicht vor. Die vorgelegten Dokumente können nach der Expertise des LKA nicht eindeutig als Fälschungen identifiziert werden, auch wenn Zweifel an der Echtheit bestehen. Die Kammer schließt sich dem Beschluss des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20. Dezember 2007 an. Die Beweislast für ein rechtsmissbräuchliches Verhalten trägt jedoch die Behörde. Im Rahmen des gerichtlichen Amtsermittlungsgrundsatzes besteht über die Einholung eines Gutachtens des LKA hinaus keine weitere Möglichkeit, die Echtheit der vorgelegten Dokumente zu untersuchen. [...]