VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 07.10.2015 - 6 K 720/14.A - asyl.net: M23243
https://www.asyl.net/rsdb/M23243
Leitsatz:

In Mazedonien erfolgt eine psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen nur ausnahmsweise. In der Regel werden sie nur medikamentös behandelt.

Schlagwörter: Roma, Mazedonien, medizinische Versorgung, Sozialleistungen,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Anhaltspunkte für eine Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ergeben sich hinsichtlich der Klägerin zu 1. auch nicht aus der geltend gemachten Erkrankung. Eine Gefahr im Sinn der genannten Regelung kann zwar auch in einer im Abschiebezielstaat zu erwartenden Verschlimmerung einer Krankheit bestehen. Erforderlich für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Oktober 2006 – 1 C 18.05 -, BVerwGE 127, 33, mit weiteren Nachweisen).

Von einer solchen wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustands kann nicht schon dann gesprochen werden, wenn "lediglich" eine Heilung eines gegebenen Krankheitszustands des Ausländers im Abschiebungszielland nicht zu erwarten ist. Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG, die der Realisierung der Rechte aus der Europäischen Menschenrechtskonvention dienen, soll dem Ausländer nicht eine Heilung von Krankheit unter Einsatz des sozialen Netzes der Bundesrepublik Deutschland sichern, sondern vor gravierender Beeinträchtigung seiner Rechtsgüter Leib und Leben bewahren. Danach ist eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustands anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden oder Zuständen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. Januar 2007 - 13 A 1138/04.A -, juris).

Nach diesen Maßgaben ist es nicht beachtlich wahrscheinlich, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin zu 1. bei einer Rückkehr nach Mazedonien als Folge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Zwar ist den vorgelegten fachärztlichen Stellungnahmen, wonach bei der Klägerin zu 1. eine depressive Symptomatik mit Erschöpfung sowie der Verdacht auf eine Somatisierungsstörung und eine Angststörung bestehe, weshalb sie neben regelmäßigen Terminen in der Praxis die Medikamente Cipralex 20 mg, Amitriptylin 25 mg bzw. Mirtazapin 30 und Quetlapin 50 mg 2x täglich erhalte, zu entnehmen, dass sie psychisch erkrankt ist und deshalb einer (weiteren) medizinischen Behandlung bedarf. Es ist jedoch davon auszugehen, dass psychische Erkrankungen in Mazedonien behandelt werden können. Dort können die meisten Krankheiten und Verletzungen therapiert werden, wofür im Rahmen des Gesundheitswesens ein dichtes Netz von Einrichtungen und Ärzten zur Verfügung steht. So gibt es im staatlichen Gesundheitssystem insgesamt 13 Allgemeinkrankenhäuser, 16 Spezialkliniken, 34 Ambulanzstationen/Polikliniken, zwei Krankenstationen, eine Kurklinik sowie drei sonstige Kliniken (vgl. Auswärtiges Amt, Ad-hoc-Berichte über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen jugoslawischen Republik (EJR) Mazedonien v.a. bzgl. der Situation der Roma sowie zur medizinischen Versorgung vom 19. Januar 2011, Seite 7 f.).

Das Grundleistungspaket der Krankenversorgung ist sehr breit gefächert, es umfasst fast alle medizinischen Leistungen und deckt sowohl ambulante als auch stationäre Behandlungen einschließlich Rehabilitations- und physiotherapeutische sowie palliativmedizinische Maßnahmen ab (vgl. Botschaft der Bundesrepublik Skopje, Auskünfte an das VG Braunschweig vom 9. April 2014 und 22. Mai 2013, Auskunft an das VG Hamburg vom 29. Juli 2013).

Insbesondere können in Mazedonien auch psychische Erkrankungen sowohl stationär als auch ambulant behandelt werden. Hierfür gibt es insgesamt drei staatliche psychiatrische Kliniken, die jeweils für eine Region des Landes zuständig sind. Daneben bieten die allgemeinen Krankenhäuser stationäre sowie ambulante Behandlungen an (vgl. Ad-hoc-Teilbericht über die Asyl-und abschiebungsrelevante Lage in der Ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien vom 19. Januar 2011, Seite 8).

Das Gericht geht deshalb in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die medizinische Versorgung in Mazedonien auch bei psychischen Erkrankungen in der Regel gewährleistet ist (vgl. z.B. Urteil vom 14. Januar 2015 – 6 K 3186/13.A -, mit weiteren Nachweisen).

Allerdings erscheint es zumindest fraglich, ob die danach in Mazedonien grundsätzlich mögliche Behandlung der Klägerin zu 1. wegen ihrer psychischen Erkrankung im Fall ihrer Abschiebung dorthin für sie auch tatsächlich erreichbar wäre. Auch wenn nach der oben dargestellten Situation in Mazedonien die Versorgung der Klägerin zu 1. mit den benötigten Medikamenten grundsätzlich möglich sein dürfte, reicht dies jedoch nicht aus, um die Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zu verneinen. Vielmehr müssen hierfür die notwendigen Medikamente für den Betroffenen auch in jeder Hinsicht zugänglich sein, wobei namentlich auch finanzielle Gründe einzubeziehen sind (vgl. BVerwG, Urteile vom 29. Oktober 2002 – 1 C 1.02 – und vom 17. Oktober 2006 – 1 C 18.05 –, jeweils zitiert nach juris). Es erscheint jedoch zumindest zweifelhaft, ob die Klägerin zu 1. in der Lage wäre, die benötigten Medikamente in Mazedonien zu finanzieren. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme müsste sie hierfür etwa 40,00 € monatlich aufbringen (Amitrptylin 25 mg, 30 Tabletten = 0,24 € im Fall einer ärztlichen Verordnung, Cipralex bzw. Citalopram 40 mg, 20 Tabletten = 8,48 € oder Escitalopram, 30 Tabletten = 8,70 €, Quetlapin bzw. Quetiapin 100 mg, 60 Tabletten = 29,81 €) (vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Skopje an das VG Münster vom 30. März 2015). Dies dürfte für die Klägerin zu 1. in Anbetracht der hohen Arbeitslosigkeit in Mazedonien, des Umstands, dass sie ohnehin nicht erwerbsfähig sein dürfte sowie insbesondere angesichts dessen, dass die Kläger wegen ihrer längerfristigen Abwesenheit für einen Zeitraum von jedenfalls sechs Monaten keinen Anspruch auf Sozialhilfeleistungen haben, weil in den Fällen des Versäumens der in Mazedonien geltenden monatlichen Meldepflicht beim Arbeitsamt ein Neuantrag auf Sozialhilfe erst nach einer Wartezeit von sechs Monaten gestellt werden kann (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien vom 12. August 2015, Seite 11 (Ziffer 3.)), kaum zu realisieren sein. Diese Frage kann letztlich jedoch offen bleiben. Denn selbst wenn der Klägerin zu 1. die benötigten Medikamente nach einer Rückkehr nach Mazedonien nicht zur Verfügung stehen sollten, wäre nicht erkennbar, dass sich ihr Gesundheitszustand im oben genannten Sinn lebensbedrohlich oder zumindest schwer wiegend verschlechtern würde. Dabei wäre die nach den vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen erforderliche Fortsetzung der Behandlung für die Klägerin zu 1. sicherlich wünschenswert und im Hinblick auf eine positive Entwicklung ihrer psychischen Gesundheit zumindest hilfreich. Wie oben dargelegt, soll der Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG aber nicht eine Heilung von Krankheit in der Bundesrepublik Deutschland sichern, sondern lediglich vor gravierender Beeinträchtigung der Rechtsgüter Leib und Leben bewahren. Die Gefahr einer solchen Beeinträchtigung ist im Fall der Klägerin zu 1. indes nicht ersichtlich.

Den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen sind keine Angaben darüber zu entnehmen, welche Folgen es für den Gesundheitszustand der Klägerin zu 1. hätte, wenn sie zukünftig ohne oder nur mit einer unzureichenden Versorgung mit den ihr verordneten Medikamenten leben müsste. Zur Annahme einer wesentlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes zwingt auch nicht die ihr attestierte Art und Schwere der psychischen Erkrankung, die zuletzt "lediglich" mit "Symptomatik mit Erschöpfung, Ängsten und psychische Beeinträchtigung" beschrieben wurde (vgl. die Stellungnahme des Dr. M. vom 2. September 2015). Im Übrigen ist den Angaben der Klägerin zu 1. zu entnehmen, dass sie bereits vor ihrer Ausreise psychisch erkrankt war und sich auch schon zu dieser Zeit nur unzureichend mit entsprechenden Medikamenten versorgen konnte. Auch wenn es ihr nach ihren Angaben deshalb dort "sehr schlecht gegangen sei", sind keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine nunmehr bestehende Gefahr des Eintritts außergewöhnlich schwerer körperlicher oder psychischer Schäden oder Zuständen im oben genannten Sinn ersichtlich. Die Klage ist jedoch begründet, soweit die Klägerin zu 2. die Verpflichtung der Beklagten begehrt, festzustellen, dass hinsichtlich ihrer Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich der Ehemaligen jugoslawischen Republik Mazedonien wegen ihrer psychischen Erkrankung vorliegt. Insoweit ist der die Klägerin zu 2. betreffende Bescheid vom 17. März 2014 rechtswidrig und verletzt sie in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin zu 2. hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Feststellung eines solchen Abschiebungsverbots.

In ihrem Fall ist es beachtlich wahrscheinlich, dass sich ihr Gesundheitszustand nach einer Rückkehr nach Mazedonien als Folge unzureichender Behandlungsmöglichkeiten im oben genannten Sinn wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Zwar ist - wie oben dargelegt - davon auszugehen ist, dass in Mazedonien die medizinische Versorgung bei psychischen Erkrankungen in der Regel gewährleistet ist. Dabei können dort nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche ihren spezifischen Bedürfnissen entsprechend – ambulant und stationär – behandelt werden. Die dort tätigen Psychiater und Psychotherapeuten sind aufgrund ihrer Ausbildung in der Lage, auch Kinder und Jugendliche angemessen und ihrem Alter entsprechend zu behandeln. Auch gibt es staatliche und private Einrichtungen, in denen die psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die etwa an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, möglich ist. Dabei sind nach den mazedonischen Gesetzen zur Krankenversicherung und zum Kinderschutz Kinder mit "physischer und psychischer Behinderung" bis zum 26. Lebensjahr von Zuzahlungen zu medizinischen Dienstleistungen und Medikamenten, für die ein Rezept ausgestellt wird, befreit (vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Skopje an VG Münster vom 30. März 2015).

Gleichwohl ist im Fall der Klägerin zu 2. aufgrund der bei ihr vorliegenden Besonderheiten anzunehmen, dass die für sie erforderliche medizinische Behandlung in Mazedonien nicht gewährleistet wäre. Aus den vorliegenden, im Tatbestand wiedergegebenen fachärztlichen Stellungnahmen geht hervor, dass bei der Klägerin zu 2. von einer mit einer Essstörung einhergehenden posttraumatische Belastungsstörung auszugehen ist, die trotz der eingeleiteten Traumatherapie und medikamentösen Behandlung bei ihr zu einer alarmierenden physischen und psychischen Entwicklung geführt hat. Dabei wird ausdrücklich hervorgehoben, dass die Klägerin zu 2. dringend eine intensivierte Traumatherapie, ggf. auch mithilfe eines stationären Aufenthalts in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, benötige und für den Fall, dass sie nicht regelmäßig psychotherapeutische Therapien bekomme, mit einer schwer gestörten Persönlichkeitsentwicklung bis hin zu lebensbedrohlichen Gesundheitsfolgen zu rechnen sei. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann jedoch nicht mit dem erforderlichen Grad der Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 2. die erforderliche kontinuierliche Behandlung durch eine Psychotherapie in Mazedonien tatsächlich erlangen könnte. Vielmehr ist der eingeholten Auskunft zu entnehmen, dass psychisch erkrankte Kinder und Jugendliche in Mazedonien vorzugsweise ambulant medikamentös behandelt werden (vgl. Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Skopje an VG Münster vom 30. März 2015), eine psychotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen also nur ausnahmsweise erfolgt. Ist es danach eher unwahrscheinlich, dass der Klägerin zu 2. in Mazedonien eine kontinuierliche Inanspruchnahme psychotherapeutischer Gespräche möglich sein würde, ist nach dem oben Ausgeführten für den Fall ihrer Abschiebung nach Mazedonien von der Gefahr einer wesentlichen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auszugehen. [...]