VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 20.08.2015 - 5a K 4515/13.A - asyl.net: M23251
https://www.asyl.net/rsdb/M23251
Leitsatz:

1. Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG für Familie mit zwei Kleinkindern, da sie zur Gruppe besonders Schutzbedürftiger zählen und zudem als Angehörige der Hindu-Minderheit Diskriminierung ausgesetzt sind.

2. Keine Flüchtlingsanerkennung, da nicht mehr von einer Gruppenverfolgung der Hindu-Minderheit in Afghanistan ausgegangen wird und erlittene Körperverletzungen und Übergriffe auch kumulativ nicht die erforderliche Schwelle für Verfolgungshandlungen nach § 3a AsylG erreichen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Hindu, Gruppenverfolgung, Familie, Kind, Kinder, Kleinkind, Abschiebungsverbot, Diskriminierung, besonders schutzbedürftig, Verfolnungshandlung, Flüchtlingseigenschaft, Kumulierung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßgaben ist in den Personen der Kläger ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG anzunehmen. Eine Familie mit – zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung – zwei Kleinkindern zählt im vorliegenden Einzelfall zur Gruppe besonders schutzbedürftiger Rückkehrer. Hinzu kommt, dass sie als Hindus in Afghanistan einer ausgrenzten Minderheit angehören und dadurch zusätzlicher Diskriminierung ausgesetzt sind, wie sie in der mündlichen Verhandlung glaubhaft vorgetragen haben. Dieser Umstand deckt sich mit der Kammerrechtsprechung (vgl. Urteil vom 24. Juli 2014 – 5a K 5809/12.A –, juris) und den Erkenntnissen zur Lage der Hindus und Sikhs in Afghanistan (vgl. zuletzt: "Verfolgt und diskriminiert – Sikhs und Hindus in Afghanistan", TAZ vom 12. Juni 2015; Schweizerische Flüchtlingshilfe, aktuelle Lage afghanischer Hindus – Auskunft SFH-Länderanalyse vom 13. September 2007).

Die Kammer hat in der Vergangenheit für die Jahre 2007/2008 eine Gruppenverfolgung der Sikhs und Hindus in Afghanistan angenommen (vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21. Februar 2013 – 5a K 3406/12 –, juris für den Zeitraum von 2007 und 2008; Übersicht über die Rechtsprechung bei VG Köln, Urteil vom 23.

September 2014 – 14 K 19/13.A –, juris Rn. 44).

Das Gewicht der Diskriminierung gegenüber den Hindus und Sikhs in Afghanistan kommt auch darin zum Ausdruck, dass sich ihre Anzahl im Jahre 2013 nach Feststellung obergerichtlicher Rechtsprechung auf insgesamt rund 3000 reduziert hat (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. September 2013 – A 11 S 689/13 –, juris Rn. 73 f.; vgl. auch Seite 5 des angefochtenen Bescheides vom 5. September 2013). [...]

Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG besteht nicht. Der Einzelrichter folgt, soweit darin eine Gruppenverfolgung der Sikhs und Hindus in Afghanistan abgelehnt wird, gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG den Ausführungen der Beklagten im Bescheid des Bundesamtes vom 5. September 2013 und sieht von einer weiteren Darstellung ab. Ergänzend ist auszuführen: Der Kläger zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, es gebe in seiner Heimatstadt L. zwei Hindu- und einen Sikh-Tempel. Der Besuch dieser Tempel sei jederzeit möglich. Die Totenverbrennung, die religiöser Brauch der Hindus sei, sei etwa vier Autostunden von L. entfernt in der Stadt U. möglich. U. sei eine Hochburg der Taliban. Wenn demnach selbst in einer Zone unter dem Einfluss der Taliban die im Islam verpönte Totenverbrennung durchgeführt werden kann, spricht dies für eine deutliche Verbesserung der Lage der Hindus und Sikhs im Hinblick auf auch öffentliche religiöse Betätigungen. Dieser Schluss wird untermauert von weiteren Erkenntnissen zur Lage der Sikhs in Afghanistan. Zum 300-jährigen Bestehen der Sikh-Kultur im April 2010 wurde in Kabul öffentlich gefeiert. Die Feier verlief ungehindert und friedlich. Vor dem Hintergrund der Schilderungen des Klägers kann nun nicht mehr nur von einem "positiven Einzelfall" (so noch VG Gelsenkirchen, Urteil vom 21. Februar 2013 – 5a K 3406/12.A –, juris Rn. 134 ff.) gesprochen werden, sondern ist Ausdruck einer grundlegend verbesserten Situation (vgl. insoweit auch: OVG NRW, Beschluss vom 4. März 2013 – 13 A 446/13 –, juris Rn. 12; eine Gruppenverfolgung der Hindus in Afghanistan verneinend: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 19. September 2013 – A 11 S 689/13 –, juris (2. Leitsatz)). [...]

Dies zugrunde gelegt, liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft mangels Verfolgungshandlung nicht vor. Der Kläger zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, zwei Männer hätten das Lebensmittelgeschäft, in dem er gearbeitet habe, betreten und ihn aufgefordert, zum Islam überzutreten. Später hätten sie ihn geschlagen und mit einem Messer an der rechten Backe verletzt. Einige Zeit später hätten sie ihn erneut aufgesucht, ihn gewürgt, mit einem Messer am Hals verletzt und ihm mitgeteilt, dies sei die letzte Warnung, um zum Islam überzutreten. Außerdem sei das Haus der Kläger mit Steinen beworfen worden. Diese Geschehnisse als wahr unterstellt, überschreiten sie nicht die dargelegte asylerhebliche Schwelle der schwerwiegenden Menschenrechtsverletzung (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG). Es handelt sich bei den Taten, die der Kläger zu 1. erlitten hat – die Narben an Hals und rechter Wange hat er in der mündlichen Verhandlung vorgezeigt –, um Straftaten, nach nationalen Maßstäben um gefährliche Körperverletzungen, nicht jedoch um Handlungen, die unter die Artikel 2 (Recht auf Leben), 3 (Verbot der Folter), 4 Absatz 1 (Verbot der Sklaverei und Leibeigenschaft) und 7 (keine Strafe ohne Gesetz) EMRK fallen und damit nicht von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG erfasst werden.

Die geschilderten Erlebnisse erreichen auch keine Qualität, dass sie kumulativ die Schwelle des § 3 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG erreichen. Soweit der Kläger zu 1. ausgeführt hat, sein Haus sei mit Steinen beworfen, er sei wiederholt von Muslimen bespuckt und von der muslimischen Bevölkerungsmehrheit wiederholt zum Wechsel der Religion gedrängt worden, erreichen diese Handlungen auch unter Berücksichtigung der bereits erörterten Diskriminierungshandlungen zum Nachteil der Sikhs und Hindus nicht kumulativ die Intensität einer asylerheblichen Verfolgungshandlung. [...]