VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 28.07.2015 - 14 K 4809/12.A - asyl.net: M23256
https://www.asyl.net/rsdb/M23256
Leitsatz:

Ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann sich bei einer psychischen Erkrankung auch wegen einer zu erwartenden Retraumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen eines Traumas ergeben.

Im übrigen ist PTBS in Tadschikistan nicht ausreichend behandelbar.

Schlagwörter: Tadschikistan, psychische Erkrankung, medizinische Versorgung, Posttraumatische Belastungsstörung, Retraumatisierung,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Nach den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers aufgrund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die unmittelbar am Maßstab von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG zu prüfen ist. Maßgeblich hierfür ist die Erwägung, dass der Begriff der Gefahr im Sinne dieser Vorschrift hinsichtlich des Entstehungsgrundes der Gefahr nicht einschränkend auszulegen ist und eine Gefahr für die Rechtsgüter Leib und Leben auch dann vorliegen kann, wenn sie durch die bereits vorhandene Krankheit konstitutionell mit bedingt ist. Erforderlich aber auch ausreichend für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist danach, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers aufgrund zielstaatsbezogene Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (BVerwG, Urteil vom 17.10.2006 – 1 C 18/05 -, Rz.15; Beschluss vom 17.08.2011 – 10 B 13/11 -, Rz. 3, jeweils zitiert nach juris).

Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG kann sich bei einer psychischen Erkrankung auch wegen einer zu erwartenden so genannten Retraumatisierung aufgrund der Konfrontation mit den Ursachen eines Traumas ergeben. Dass in diesem Fall an sich im Zielstaat vorhandene Behandlungsmöglichkeiten unerheblich sind, wenn sie für den Betroffenen aus für ihn in der Erkrankung selbst liegenden Gründen, nämlich wegen der Gefahr der Retraumatisierung, nicht erfolgversprechend sind, ist inzwischen in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt (so OVG Lüneburg, Urteil vom 12.09.2007 – 8 LB 210/05 -, juris Rz. 31 m.w.N.).

Das Gericht ist davon überzeugt, dass im Falle der Klägerin zu 1) eine derartige wesentliche Verschlimmerung ihrer Erkrankung droht, wenn sie gezwungen wäre, nach Tadschikistan zurückzukehren. Die Klägerin leidet an einer seit mehreren Jahren bestehenden posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) mit einer schweren depressiven Begleitsymptomatik. Eine zwangsweise Rückkehr der Klägerin zu 1) nach Tadschikistan hätte eine extreme Verschlechterung ihres psychischen Zustandes verbunden mit einer erheblichen Suizidgefährdung zur Folge.

Diese Einschätzung des Gerichts beruht maßgeblich auf den Feststellungen der psychologischen Psychotherapeutin ..., die zu den Akten gereicht wurden (Befundbericht vom 07.09.2012, Widerspruch gegen die Ablehnung der Psychotherapie vom 15.04.2013, Bescheinigung vom 18.09.2013 sowie die achtseitige "Bescheinigung zur Vorlage bei Behörden" vom 13.04.2015).

Dabei ist zunächst zu berücksichtigen, dass das Gericht im Hinblick auf medizinische Wertungen selbst nicht ausreichend sachkundig ist, um das Vorhandensein einer psychischen Erkrankung bei der Klägerin zu 1) ohne externen Sachverstand festzustellen. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist hinreichend geklärt, dass es in den hier entscheidungserheblichen medizinischen Fachfragen keine eigene, nicht durch entsprechenden medizinischen Sachverstand vermittelte Sachkunde des Richters gibt. Gleiches gilt auch für die Beklagte, die sich allerdings im vorliegenden Verfahren zu der achtseitigen Bescheinigung vom 13.04.2015 ohnehin nicht geäußert hat.

Dass Frau ... aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation als psychologische Psychotherapeutin befähigt ist, eine PTBS zu diagnostizieren, ist in der Rechtsprechung geklärt (so ausdrücklich OVG NRW, Beschluss vom19.12.2008 – 8 A 3053/08. A –, DVBl. 2009, 398).

Auf der Grundlage der vorgelegten Befunde, die den Zeitraum von September 2012 bis April 2015 abdecken, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin zu 1) an einer PTBS leidet.

Zunächst hat sie sich bereits Anfang 2012 und somit deutlich weniger als ein Jahr nach ihrer Einreise in ärztliche Behandlung begeben. Schon in dem ärztlichen Attest der Fachärzte für Allgemeinmedizin X. vom 05.04.2012 werden Einzelaspekte der später fachärztlich attestierten PTBS bescheinigt (Schlafstörung, Kriegsneurose, Panikattacken, Angststörung).

Zwar ist nicht zu verkennen, dass der Vortrag der Klägerin zu 1) nicht in allen Punkten frei von Widersprüchen ist. Darüber hinaus wurde das Vorbringen im gerichtlichen Verfahren gegenüber den Angaben im Verwaltungsverfahren deutlich erweitert. Vor dem Hintergrund der fachärztlich festgestellten PTBS ist dieses Verhalten jedoch ohne Weiteres nachvollziehbar. Dem erkennenden Einzelrichter ist bereits aus anderen Verfahren mit gleicher Problematik bekannt, dass bei traumatisierten Menschen besondere Gedächtniseffekte festzustellen sind, die die Darstellung der traumatischen Situation unmöglich machen oder zumindest erschweren. Dies kann sich z.B. in mangelnder Konkretheit, fehlenden Details oder mangelnder Originalität äußern. Der Kern der Angaben der Klägerin zu 1) ist bei allen Darstellungen identisch. Mag die Darstellung der ersten Konfrontation nach der Einreise mit männlichen deutschen Polizeibeamten aufgrund der Erfahrungen mit staatlicher Autorität in ihrem Heimatland auch subjektiv übertrieben sein, so macht sie gleichwohl plausibel, dass die Klägerin zu 1), die die Verantwortung für drei minderjährige Kinder trägt, so eingeschüchtert und verängstigt war, dass ihre Angaben in erster Linie ergebnisorientiert waren und sie nichts gesagt hat, was aus ihrer Sicht zu der (angedrohten) sofortigen Abschiebung hätte führen können. Damit im Einklang steht es, dass die muslimische Klägerin zu 1) ihre Angst in späteren Gesprächen mit einer Mitarbeiterin der Diakonie und ihrer Therapeutin abgelegt und dort weitere Einzelheiten ihres Verfolgungsschicksals geschildert hat. Ebenso bescheinigt Frau ... bereits in ihrem Befundbericht vom 07.09.2012, dass eine vertiefte Exploration der traumatischen Erlebnisse zunächst wegen der drohenden gesundheitlichen Reaktionen nicht möglich sei. Auch dies belegt, dass die Art und Weise der Schilderung ihres Schicksals krankheitsbedingt ist, was durch den Eindruck, den die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung vermittelt hat, eindringlich bestätigt worden ist.

Insbesondere in der sehr ausführlichen Bescheinigung vom 13.04.2015 wird nachvollziehbar dargelegt, mit welcher Methodik die Psychologische Psychotherapeutin zu ihrer Diagnose gelangt ist. Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen bestehen daher nicht und werden im Übrigen auch von der Beklagten nicht vorgetragen.

Schließlich hat Frau ... in ihrer Bescheinigung vom 13.04.2015 auch überzeugend die möglichen Folgen einer Abschiebung nach Tadschikistan geschildert. Zusammengefasst kommt sie zu dem nachvollziehbar begründeten Ergebnis, dass eine Abschiebung der Kläger mit Sicherheit zu einer direkten Lebensgefährdung der Klägerin zu 1) führen würde. Dies gelte unabhängig von der realen objektiven Lage vor Ort und den dort zur Verfügung stehenden Behandlungsmöglichkeiten.

Ungeachtet dessen ist PTBS in Tadschikistan nicht ausreichend behandelbar (so VG Frankfurt am Main, Urteil vom 12.11.2009 -1 K 1099/08.F.A (V), zitiert nach juris. Anderslautende Erkenntnisse liegen dem Gericht nicht vor).

Angesichts der in sich schlüssigen und überzeugenden Darlegungen der psychologischen Psychotherapeutin sieht das Gericht davon ab, ein weiteres Gutachten über die gesundheitliche Situation der Klägerin zu 1) einzuholen. Ein solche Begutachtung wäre für die Klägerin zu 1) nach den bisherigen medizinischen Feststellungen mit weiteren erheblichen Belastungen verbunden, ohne dass auch nur ansatzweise erkennbar wäre, dass eine erneute Begutachtung zu anderen Ergebnissen kommen könnte. Frau ... hat mit der Klägerin zu 1) bis zum April 2015 insgesamt 58 Therapiesitzungen durchgeführt. Sie hat allein deshalb einen Kenntnis - stand von der gesundheitlichen Situation der Klägerin zu 1), der durch eine weitere, notgedrungen kürzere Begutachtung nicht erreicht werden könnte. Die vorliegenden medizinischen Unterlagen reichen daher für die Überzeugungsbildung des Gerichts aus. [...]