VG Köln

Merkliste
Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 03.07.2015 - 23 K 581/14.A - asyl.net: M23259
https://www.asyl.net/rsdb/M23259
Leitsatz:

Schiiten sind allein aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit, also ohne hinzukommende persönliche Gefährdungsmerkmale, in Pakistan keiner landesweiten gruppengerichteten religiösen oder politischen Verfolgung durch extremistische Sunniten ausgesetzt.

Schlagwörter: Pakistan, Schiiten, Abschiebungshindernis, religiöse Verfolgung, Sunniten, extremistische Sunniten, nichtstaatliche Verfolgung, Rückkehrgefährdung, psychische Erkrankung, Gruppenverfolgung,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG §3 Abs. 4, AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7,
Auszüge:

[...]

Bei Würdigung und Bewertung dieser Erkenntnismittel im Wege einer Gesamtschau der maßgeblichen Kriterien ist das Gericht bei Anwendung der vorgenannten Maßstäbe der Überzeugung, dass Schiiten allein aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit, also ohne hinzukommende persönliche Gefährdungsmerkmale, in Pakistan keiner hieran anknüpfenden landesweiten gruppengerichteten religiösen oder politischen Verfolgung durch extremistische Sunniten ausgesetzt sind. Eine religiöse oder politische Verfolgung von Schiiten durch die derzeitige pakistanische Regierung – in Gestalt eines staatlichen Verfolgungsprogramms – ist nach der Auskunftslage nicht ersichtlich und wird auch vom Kläger nicht behauptet. Die berichteten Übergriffe durch radikale, terroristische Organisationen der mehrheitlichen Sunniten erreichen von der Anzahl der Rechtsverletzungen im Verhältnis zur Gesamtzahl dieser Gruppe nicht die Schwelle, ab der eine für die Annahme einer Gruppenverfolgung erhebliche Verfolgungsdichte anzunehmen wäre. Zwar ist die schiitische Bevölkerungsminderheit in erheblichem und im Vergleich der Vorjahre zunehmendem Umfang Terroraktionen durch sunnitische Extremisten ausgesetzt. Nach den zuvor zitierten Auskünften kann gleichwohl jedoch nicht festgestellt werden, dass auch für jeden Schiiten in Pakistan eine aktuelle Gefahr eigener und persönlicher Betroffenheit besteht. Dies ergibt sich insbesondere unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Größe der Bevölkerungsgruppe zur Anzahl der von Anschlägen betroffenen Personen.

In den zuvor zitierten Auskünften werden die Bevölkerungszahl und der Anteil der Schiiten an der Gesamtbevölkerung Pakistans recht unterschiedlich angegeben. Geht man hinsichtlich beider Kriterien von den niedrigsten Angaben aus (160 Millionen Einwohner und Anteil der Schiiten von 15%), so ist davon auszugehen, dass jedenfalls rund 24 Millionen Schiiten in Pakistan leben. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 8. April 2014 – dieser enthält insoweit die höchste Opferzahl – waren im Jahr 2013 insgesamt 1.853 Personen Opfer extremistischer religiös motivierter Anschläge. Selbst wenn man unterstellt, dass alle dort aufgeführten Opfer Schiiten waren, waren nicht einmal 0,01% der schiitischen Bevölkerungsgruppe von Anschlägen betroffen. Das Gericht verkennt hierbei nicht, dass durch die zunehmende Häufung von Anschlägen, insbesondere gegen Moscheen und religiöse Veranstaltungen, insgesamt ein Klima der Sorge, Angst und Bedrohung entsteht. Unter Berücksichtigung der vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Kriterien, wonach für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit bestehen muss, ist gleichwohl eine zur Annahme einer Gruppenverfolgung notwendige Verfolgungsdichte zu verneinen. Angesichts des zuvor ermittelten Verhältnisses von Bevölkerungsgruppe und Übergriffen liegt – jedenfalls derzeit – nicht für jedes Gruppenmitglied im flüchtlingsrechtlichen Sinn eine aktuelle und hinreichend konkrete Gefahr, Opfer eines Anschlages zu werden, vor (sSo auch VG München, Urteil vom 8. Juni 2011 – M 23 K 07.50966 –; VG Augsburg, Urteil vom 22. August 2013 – Au 6 K 13.30182 –; VG Düsseldorf, Urteil vom 29. April 2014 – 14 K 7822/13.A – und VG Ansbach, Urteil vom 7. August 2014 – AN 11 K 14.30589 –).

Vor diesem Hintergrund kann offen bleiben, ob der pakistanische Staat willens und in der Lage ist, gegen solche Übergriffe der radikalen sunnitischen Mehrheit vorzugehen und hierzu geeignete Schritte dagegen eingeleitet hat.

Der Kläger hat allerdings einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zu der Feststellung, dass ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Pakistan besteht. Nach dieser Bestimmung soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Voraussetzungen sind für den Kläger hinsichtlich Pakistan gegeben.

Aus den zuvor bereits zitierten Berichten des Auswärtigen Amtes und von Amnesty International ergibt sich, dass für Rückkehrer staatliche oder sonstige Aufnahmeeinrichtungen in Pakistan nicht vorhanden sind. Personen, die wie der Kläger nach Pakistan zurückkehren, erhalten keinerlei staatliche Wiedereingliederungshilfen oder sonstige Sozialleistungen. Die Grundversorgung der Rückkehrer wird daher im Wesentlichen durch die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ihres Familienverbandes gesichert. Genau diese Sicherung besteht für den Kläger bei einer Rückkehr nach Pakistan jedoch nicht. Der Kläger hat bei der Anhörung durch das Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung gleichbleibende, detaillierte und damit letztlich glaubhafte Angaben zu seinen familiären Verhältnissen gemacht. Danach hat sein Vater die Familie verlassen, als er 10 oder 11 Jahr alt war; seit dem hat der Kläger keinen Kontakt mehr zum Vater und auch nicht mehr zur väterlichen Verwandtschaft. Der Bruder, der sich zwischenzeitlich um ihn gekümmert hat, hat nach Angaben des Onkels des Klägers inzwischen Pakistan verlassen. Damit verbleibt nur noch ein Onkel, zu dem der Kläger vor der Ausreise schon nur sporadischen Kontakt hatte. Von einer Rückkehr in den wirtschaftlichen und persönlichen Schutz einer Großfamilie kann daher nicht die Rede sein. Gleichwohl geht das Gericht nicht davon aus, dass für jeden alleinstehenden jungen Mann eine Rückkehr nach Pakistan mit erheblichen konkreten Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenthG verbunden ist. Vielmehr ist davon auszugehen, dass arbeitsfähige Personen in den Großstädten ein wirtschaftliches Auskommen finden und in der Anonymität der Großstädte auch hinreichend persönlich geschützt sind. Im besonderen Fall des Klägers kommt jedoch hinzu, dass dieser ausweislich der vorgelegten Atteste des Evangelischen Krankenhauses Bergisch Gladbach vom 4. September 2014, 10. November 2014 und 22. Juni 2015 an einer tiefgreifenden Angststörung erkrankt ist. Hiermit gehen dauerhafte Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und Angstattacken, insbesondere beim Kontakt mit pakistanischen Personen – aber auch losgelöst davon – einher. Der Kläger wird zur Behandlung dieser Erkrankung medikamentös versorgt und nimmt an einer Psychotherapie im Krankenhaus teil.

Auch wenn mit dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes im Grundsatz davon auszugehen ist, dass auch psychische Erkrankungen in Pakistan behandelbar sind, ist aus Sicht des Gerichts aufgrund der mit der Erkrankung verbundenen Einschränkungen für den Kläger konkret zu befürchten, dass er in Pakistan kein wirtschaftliches Auskommen finden wird. Dieses wird – wie zuvor bereits ausgeführt – auch nicht durch die Familie oder staatliche Leistungen sichergestellt. In Anbetracht der verfassungsmäßigen Werteordnung des Grundgesetzes ist seine Abschiebung nach Pakistan derzeit daher unzulässig. [...]