VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 29.06.2015 - 4 K 324/14 (= ASYLMAGAZIN 1-2/2016, S. 56 ff.) - asyl.net: M23260
https://www.asyl.net/rsdb/M23260
Leitsatz:

Die Behörde hat die Pflicht, einer Person, die das 18. Lebensjahr vollendet hat, bezüglich der Optionspflicht aufzuklären. Geschieht dies nicht unverzüglich, ist dies unschädlich und führt nicht dazu, dass die Erklärungspflicht mit den entsprechenden Verlustrechtsfolgen nicht entsteht.

Schlagwörter: Optionspflichtl, Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, Unverzüglichkeit, schuldhaftes Zögern, Erklärungspflicht, Rechtsfolgen, Volljährigkeit, Hinweispflicht, Belehrung, Ausschlussfrist, Aufgabe der Staatsangehörigkeit,
Normen: StAG § 29 Abs. 5 S. 3, StAG § 29,
Auszüge:

[....]

Dass die Beklagte dem Kläger den Hinweis entgegen § 29 Abs. 5 S. 3 StAG erst zwei Jahre und einen Monat nach Vollendung des 18. Lebensjahres und damit nicht unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 Abs. 1 BGB), erteilt hat, ist unschädlich und führt insbesondere nicht dazu, dass die Erklärungspflicht mit den entsprechenden Verlustrechtsfolgen nicht entstanden wäre. Denn bei der Fristbestimmung des § 29 Abs. 5 S. 3 StAG handelt es sich lediglich um eine Ordnungsvorschrift. Ein Verstoß gegen diese berührt nicht die Wirksamkeit des Hinweises und damit auch nicht die Entstehung der Erklärungspflicht (vgl. ebenso: Berlit, in: GK-StAR, a.a.O., § 29, Rn. 50 und 131 f.).

Ein solches Verständnis ergibt sich aus einer an Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Vorschrift orientierten Auslegung.

Dem Wortlaut der Vorschrift allein ist zwar nicht eindeutig zu entnehmen, ob ein Verstoß gegen das Unverzüglichkeitsgebot die Erklärungspflicht und damit auch die gesetzlichen Verlustfolgen der Vorschrift entstehen lässt oder nicht. In § 29 Abs. 1 S. 1 StAG heißt es, dass ein Deutscher, der die dort genannten Erwerbsvoraussetzungen erfüllt, erst nach Erreichen der Volljährigkeit und nach einem Hinweis "gemäß Abs. 5" zu erklären hat, ob er die deutsche oder die ausländische Staatsangehörigkeit behalten will. Einerseits wird damit der gesamte Abs. 5 der Vorschrift und damit auch S. 3 mit dem Unverzüglichkeitsgebot in Bezug genommen. Andererseits wird die Entstehung der Erklärungspflicht nicht ausdrücklich gerade auch an eine unverzüglich erfolgte Zustellung des Hinweises geknüpft, wie dies etwa in der Neufassung der Vorschrift durch das Zweite Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes vom 13. November 2014 der Fall ist (vgl. § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 StAG, wonach die Optionspflicht nur dann entsteht, wenn der Betroffene innerhalb eines Jahres nach Vollendung seines 21. Lebensjahres einen Hinweis nach Abs. 5 S. 5 über seine Erklärungspflicht erhalten hat). Der Vergleich mit der Neufassung legt daher nahe, dass § 29 Abs. 1 StAG in der hier noch maßgeblichen Fassung nicht dahin zu verstehen ist, dass auch die Einhaltung des Unverzüglichkeitserfordernisses von S. 3 der Vorschrift Voraussetzung für die Entstehung der Erklärungspflicht ist.

Die Entstehungsgeschichte sowie Sinn und Zweck der Vorschrift sprechen ebenfalls für ein solches Verständnis. Der Zusatz in § 29 Abs. 1 S. 1 StAG "und nach Hinweis gemäß Abs. 5" ist erst aufgrund der Beschlussempfehlung des Innenausschusses vom 29. April 1999, die auf den Änderungsanträgen der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP vom 16. April 1999 beruhte, in die Vorschrift aufgenommen worden. Ausweislich der Begründung hierzu sollte damit erreicht werden, dass ein Verstoß der Behörde gegen die Hinweispflicht nach Abs. 5 nicht zu Lasten des Betroffenen geht. In diesen Fällen entstehe die Erklärungspflicht nicht und die deutsche Staatsangehörigkeit gehe nicht nach dieser Vorschrift verloren (vgl. BT-Drs. 14/867, S. 21). Mit der Aufnahme der Hinweispflicht als Voraussetzung für die Erklärungspflicht wurde letztlich die Bedeutung des behördlichen Hinweises für die Optionspflicht und für den damit verbundenen gesetzlichen Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit unterstrichen. Denn nur durch die behördliche Pflicht zur Aufklärung und Belehrung des betroffenen Mehrstaaters über seine Verpflichtungen und die daran geknüpften Rechtsfolgen wird sichergestellt, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht aus Unkenntnis der Rechtslage verloren geht (vgl. BT-Drs. 14/533, S. 16). Denn der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit ist mit Blick auf die Schranke des Art. 16 Abs. 1 S. 1 GG nur dann unbedenklich, wenn er auf einer eigenverantwortlichen und selbstbestimmten Entscheidung des Betroffenen beruht, die jedoch wiederum die genaue Kenntnis der Rechtslage voraussetzt. Der Zusatz in § 29 Abs. 5 S. 3 StAG "unverzüglich nach Vollendung des 18. Lebensjahres" anstelle der ursprünglich beabsichtigten Formulierung "mit Vollendung des 18. Lebensjahres" ist ebenfalls aufgrund der Beschlussempfehlung des Innenausschusses vom 29. April 1999 aufgenommen worden. Er beruhte allerdings nicht auf den Änderungsanträgen der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP vom 16. April 1999, sondern ist nach den Beratungen im Innenausschuss zusätzlich aufgenommen worden. Diese Änderung diente erkennbar dazu, der Behörde mehr Zeit für die Erteilung des Hinweises einzuräumen als in der Entwurfsfassung vorgesehen. Andererseits sollte durch eine zügige Zustellung auch dem öffentlichen Interesse an einer schnellen Klärung der staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnisse Rechnung getragen werden sowie – als Rechtsreflex dazu – dem Interesse des Erklärungspflichtigen, die gesetzlichen Überlegungs- und Handlungsfristen auch ausschöpfen zu können. Unter Berücksichtigung des danach mit der Hinweispflicht in erster Linie verfolgten Zwecks, den Betroffenen in die Lage zu versetzen, in Kenntnis aller gesetzlichen Obliegenheiten und Rechtsfolgen eine eigenverantwortliche Entscheidung über die Wahl der Staatsangehörigkeit zu treffen, ist die Einhaltung des Unverzüglichkeitsgebots in § 29 Abs. 5 S. 3 StAG nicht als Voraussetzung für die Wirksamkeit des Hinweises anzusehen. Denn der Zweck ist auch dann erreicht, wenn die behördliche Belehrung zwar nicht unverzüglich, aber doch so rechtzeitig erfolgt, dass der Betroffene seine gesetzlichen Obliegenheiten noch erfüllen kann.

Eine andere Beurteilung und eine aus verfassungsrechtlichen Gründen erforderliche Korrektur des Regelungsregimes des § 29 StAG wäre allerdings für den – hier nicht vorliegenden – Fall geboten, dass der behördliche Hinweis so spät erfolgt ist, dass dem Betroffenen dadurch die Erfüllung seiner in § 29 Abs. 2 bis 4 StAG vorgesehenen Obliegenheiten mit der Folge eines eventuellen Rechtsverlustes unmöglich gemacht würde. Dies wäre namentlich der Fall, wenn der Hinweis erst nach Vollendung des 21. Lebensjahres erfolgte, da dem Betroffenen dann die Möglichkeit genommen würde, innerhalb der gesetzlichen Ausschlussfrist des § 29 Abs. 3 S. 3 StAG einen Antrag auf Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit zu stellen. In einem solchen Fall reichte es jedoch aus, wenn dem Betroffenen wegen des Pflichtverstoßes der Behörde ausnahmsweise der Ablauf der Ausschlussfrist nicht entgegengehalten würde. Nicht erforderlich wäre es, darüber hinaus auch die Entstehung der Erklärungspflicht mit der Folge abzulehnen, dass die deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren geht (vgl. ebenso: Berlit, in: GK-StAR, a.a.O., § 29, Rn. 50 und 131 f.).

b) Der Kläger hat mit Schreiben 21. März 2011 und damit nach Erreichen der Volljährigkeit auch die Erklärung abgegeben, dass er die deutsche Staatsangehörigkeit behalten will. Damit war er gemäß § 29 Abs. 3 S. 1 StAG verpflichtet, die Aufgabe oder den Verlust der ausländischen – hier der türkischen – Staatsangehörigkeit nachzuweisen.

c) Diesen erforderlichen Nachweis hat der Kläger bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres nicht geführt. Aus der beigezogenen Einbürgerungsakte lässt sich ein Nachweis über die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit (vgl. Art. 25 des türkischen Staatsangehörigkeitsgesetzes Nr. 5901 vom 29. Mai 2009, abgedruckt in Bergmann/Ferid/Henrich, Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht, Ordner XVIII) nicht entnehmen. Vielmehr hat der Kläger auf verschiedene Erinnerungsschreiben der Beklagten nicht reagiert.

Ein entsprechender Nachweis ist auch im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht nachgereicht worden. Zwar knüpft die Vorschrift ihrem Wortlaut nach an den "Nachweis" des Verlusts der ausländischen Staatsangehörigkeit vor Vollendung des 23. Lebensjahres an. Maßgeblich kann mit Blick auf Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG, wonach der Verlust der Staatsangehörigkeit nur aufgrund eines Gesetzes und gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten darf, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos wird, aber nur der Verlust bzw. die Aufgabe der ausländischen Staatsangehörigkeit in der Sache sein. Verfügt der junge Deutsche vor Vollendung des 23. Lebensjahres nämlich objektiv nicht mehr über eine ausländische Staatsangehörigkeit, entfällt damit auch der rechtfertigende Grund, ihm eine Entscheidung darüber abzuverlangen, welche Staatsangehörigkeit er künftig beibehalten will. Der kraft Gesetzes eintretende Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit bei Nichtnachweis des Verlusts oder der Aufgabe der ausländischen Staatsangehörigkeit bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres setzt damit voraus, dass objektiv Mehrstaatigkeit fortbesteht. Ansonsten droht ein mit Art. 16 Abs. 1 S. 2 GG und den völkerrechtlichen Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, Mehrstaatigkeit zu vermeiden, unvereinbarer Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit, der zur Staatenlosigkeit führt (vgl. ebenso: Berlit, in: GK-StAR, a.a.O., § 29, Rn. 82 f.).

Der Kläger hat im Klageverfahren einen damit grundsätzlich nachholbaren Nachweis über den Verlust der türkischen Staatsangehörigkeit nicht geführt. Im Gegenteil hat er in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich erklärt, sich nach dem behördlichen Hinweisschreiben vom 9. Februar 2011 nicht um die Entlassung aus der türkischen Staatsangehörigkeit bemüht zu haben.

d) Schließlich hat der Kläger vor Vollendung des 23. Lebensjahres auch weder eine Genehmigung zur Beibehaltung der deutschen Staatsangehörigkeit erhalten (vgl. § 29 Abs. 3 S. 2 StAG) noch einen Antrag auf Erteilung einer solchen Genehmigung gestellt (vgl. § 29 Abs. 3 S. 3 StAG), der noch unbeschieden ist, mit der Folge, dass der Verlust der Staatsangehörigkeit noch nicht eingetreten wäre (vgl. § 29 Abs. 3 S. 4 StAG).

Die Beantragung einer Beibehaltungsgenehmigung ist auch nicht nachträglich möglich, da der Antrag gemäß § 29 Abs. 3 S. 3 StAG – auch vorsorglich – nur bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres gestellt werden kann. Hierbei handelt es sich nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Vorschrift um eine gesetzliche Ausschlussfrist, die von der Staatsangehörigkeitsbehörde nicht verlängert werden kann. Nach dem Sinn und Zweck der Frist ist insbesondere auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausgeschlossen (vgl. § 32 Abs. 5 VwVfG) (vgl. ebenso: Berlit, in: GK-StAR, a.a.O., § 29, Rn. 95; Renner/Maaßen, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, a.a.O., § 29, Rn. 39).

Auch ist die Heranziehung der Ausschlussfrist aus den oben dargestellten Erwägungen nicht deswegen ausgeschlossen, weil dem Kläger der erforderliche Hinweis nach § 29 Abs. 5 StAG erst nach Ablauf der Frist zugestellt und daher eine Antragstellung unmöglich gemacht worden wäre. Das Hinweisschreiben vom 9. Februar 2011 ist dem Kläger – wie dargelegt – am 12. Februar 2011 und damit knapp ein Jahr vor Vollendung des 21. Lebensjahres am 9. Januar 2012 zugestellt worden. Der Kläger war damit ohne Weiteres in der Lage, vor Ablauf des 21. Lebensjahres einen Antrag auf Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung zu stellen. Dies wird namentlich dadurch belegt, dass er bereits am 21. März 2011 sein Optionsrecht für die deutsche Staatsangehörigkeit ausgeübt hat. Dass er zu diesem Zeitpunkt nicht auch – zumindest vorsorglich – einen Antrag auf Erteilung einer Beibehaltungsgenehmigung stellen konnte, ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. [...]