VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.03.2015 - 6a K 1191/14.A - asyl.net: M23278
https://www.asyl.net/rsdb/M23278
Leitsatz:

Die Gefahr einer Tötung im Rahmen der "Blutrache" in Abchasien (Georgien) stellt eine unmenschliche Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG dar.

Schlagwörter: Georgien, Blutrache, Abchasien, Abchasen, subsidiärer Schutz, unmenschliche Behandlung, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylVfG § 4, AsylVfG § 4 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2. Den Klägern ist jedoch gemäß § 4 Abs. 1 AsylVfG subsidiärer Schutz zuzuerkennen. Subsidiär schutzberechtigt ist nach dieser Vorschrift, wer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, ihm drohe in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die vorgenannten Gefahren müssen dabei gemäß § 4 Abs. 3 i. V. m. § 3c AsylVfG in der Regel von dem in Rede stehenden Staat oder den ihn beherrschenden Parteien oder Organisationen ausgehen. Die Bedrohung durch nichtstaatliche Akteure kann hingegen nur dann zu subsidiärem Schutz führen, wenn der betreffende Staat selbst nicht willens oder nicht in der Lage ist Schutz zu gewähren. Bei der Prüfung, ob dem Kläger im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, gilt ebenfalls der oben dargelegte Prüfungsmaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

Die im Raum stehende Gefahr einer Tötung im Rahmen der "Blutrache" stellt eine unmenschliche Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG dar (vgl. dazu nur BayVGH, Beschluss vom 22. Juli 2014 - 13a ZB 14.30059 -, juris).

Die Kammer ist aufgrund der Angaben der Klägerin zu 1. gegenüber dem Bundesamt, vor allem aber aufgrund der eingehenden Schilderungen der Klägerin zu 1. und der ergänzenden Auskünfte der elfjährigen Klägerin zu 2. in der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass die von den Klägern reklamierte Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Die Geschehnisse sind von den Klägerinnen nachvollziehbar und eindrücklich geschildert worden. Kleinere Brüche bei der Beschreibung der Abläufe durch die Klägerin zu 1., namentlich bei der präzisen zeitlichen Einordnung der einzelnen Ereignisse, schreibt das Gericht gewissen Schwierigkeiten bei dem genauen Verständnis der durch den Einzelrichter gestellten und in die russische Sprache übersetzten Fragen zu. Die Bewertung der Glaubhaftigkeit hat im Übrigen vor dem Hintergrund der der Kammer vorliegenden Erkenntnisse zu erfolgen, denen zufolge es die "Blutrache" in Georgien durchaus gegeben hat und in Teilen des Landes – gerade im nördlichen B. – wohl auch heute noch vereinzelt gibt (ebenso die Einschätzung der Erkenntnislage in dem Urteil des VG Bayreuth vom 19. September 2014 - B 5 K 14.30175 -, juris (dort Rdnr. 29); vgl. etwa die ACCORD-Anfragebeantwortung vom 26. September 2007 zum Thema "Blutrache; staatlicher Schutz bei Blutrache", abrufbar auf www.ecoi.net, und die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das BAMF vom 6. Januar 2015 zu demselben Thema).

Die Gefahr geht auch von einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 3c AsylVfG aus. Dazu gehören nämlich auch nichtstaatliche Akteure, sofern der Staat bzw. die den Staat oder einen wesentlich Teil davon beherrschenden Akteure nicht in der Lage oder nicht willens sind Schutz zu bieten. Aus Sicht der Kammer besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Kläger Schutz gegen die einflussreiche Familie ..., von der ihnen die Blutrache angedroht worden ist, nicht erlangen können. Der georgische Staat, zu dem B. aus völkerrechtlicher Perspektive immer noch gehört, hat in B. offenbar jegliche Herrschaftsmacht verloren; das Gebiet wird de facto autonom verwaltet. Die abchasischen Behörden wiederum haben den Klägern nach ihrer Schilderung erklärt, gegen die betreffende Familie keinen Schutz gewähren zu können. Aufgrund der Verhältnisse in B. und der Umstände des konkreten Falles hält die Kammer dies für nachvollziehbar.

Das Gericht geht davon aus, dass die Gefahr nicht nur dem Kläger zu 3., sondern allen Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Die Klägerinnen zu 1. und zu 2. wären im Übrigen andernfalls ohnehin gemäß § 26 Abs. 5 AsylVfG in den subsidiären Schutzstatus des Klägers zu 3. (nach Bestandskraft) einzubeziehen.

Zur Überzeugung des Gerichts steht schließlich auch fest, dass die Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Internen Schutz nach § 4 Abs. 3 S. 1 AsylVfG i.V.m. § 3e AsylVfG in Anspruch nehmen können. Nach diesen Vorschriften scheidet der subsidiäre Schutz aus, wenn der Betroffene in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -, BVerwGE 131, 186 ff.).

Zwar wird man unterstellen können, dass die Kläger legal nach Georgien einreisen dürfen (vgl. nur die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das OVG NRW vom 15. Oktober 2013 (betreffend Binnenflüchtlinge aus Südossetien)) und der georgische Staat grundsätzlich bereit ist, Schutz gegen "Blutrache" zu gewähren (vgl. nur die Auskunft des Auswärtigen Amtes an das BAMF vom 6. Januar 2015 zum Thema "Blutrache"). Aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalles dürfte die Übersiedelung nach "Kern-Georgien" jedoch für die Kläger unzumutbar sein. Nimmt man die besondere persönliche Situation der Familie, das Alter der besonders schutzbedürftigen Kinder, das Fehlen georgischer Sprachkenntnisse, die allgemeine wirtschaftliche Lage in Georgien, die in der vorgenannten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 15. Oktober 2013 und anderen Auskünften der letzten Jahre geschilderten Probleme bei der Versorgung und Unterbringung von Binnenflüchtlingen in Georgien und die sonstigen besonderen Umstände des vorliegenden Einzelfalles zusammen, kann von den Klägern nicht erwartet werden, dass sie sich in "Kern-Georgien" ansiedeln. [...]