VG Göttingen

Merkliste
Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 15.10.2015 - 2 A 272/14 - asyl.net: M23287
https://www.asyl.net/rsdb/M23287
Leitsatz:

Übergriffe sunnitischer Extremisten auf eine schiitische Familie in Pakistan sind asylrelevant, wenn staatliche Behörden nicht willens sind, Schutz gegen nichtstaatliche Übergriffe zu bieten.

Schlagwörter: Pakistan, Schiiten, nichtstaatliche Verfolgung, Schutzbereitschaft,
Normen: AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3,
Auszüge:

[...]

Er hat zur Überzeugung des Einzelrichters Angriffe religiös Andersdenkender sowohl auf ihn wie auch auf seine Familie schlüssig und nachvollziehbar und deshalb glaubhaft im Rahmen der mündlichen Verhandlung schildern können. Er hat zunächst die Motivation für den Bau einer Moschee in seiner Heimatgemeinde nachvollziehbar darlegen können. Aus einem kleinen Gebetshaus sollte eine vollwertige Moschee werden, um den Gemeindemitgliedern den Weg zu auswärtigen religiösen Stätten zu ersparen. Dem Kläger zu 1) ist es dabei gelungen, die maßgebliche Rolle seines Vaters beim Bau dieser Moschee darzulegen. Dieser war in der Gemeinde offenbar hochangesehen und der inoffizielle Vorsteher dieser Gemeinde. Es spricht für die Glaubwürdigkeit des klägerischen Vorbringens, wenn der Kläger seinen eigenen Beitrag zum Bau dieser Moschee deutlich hinter denjenigen seines Vaters zurückstellt. Sowohl seine religiöse Ausrichtung als auch die Mithilfe beim Bau der Moschee schilderte der Kläger zu 1) in mündlicher Verhandlung als Folge seiner Stellung als ältester Sohn seines Vaters. In der mündlichen Verhandlung gelang es dem Kläger darüber hinaus, den Angriff von ca. 30 bis 40 zum Teil vermummten Angreifern auf die Bauarbeiter nachvollziehbar zu schildern. Er tat dies sichtlich persönlich betroffen, aber ohne zu übertreiben. Auch die in der Folge stattgehabten Bedrohungen fernmündlicher und persönlicher Natur nimmt der Einzelrichter dem Kläger zu 1) ab. Den vermeintlichen Widerspruch, darin liegend, dass der Kläger einerseits bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt angegeben hat, er habe lange vor seiner Ausreise nicht gearbeitet, andererseits aber behauptet hat, er sei auf dem Weg von und zur Arbeit bedroht worden, vermochte er aufzulösen. Die Arbeit auf dem Feld und auf dem Hof des Familienbetriebes war für den Kläger auf Nachfrage nicht als eigentliche Arbeitstätigkeit anzusehen. Es erscheint nachvollziehbar, dass derjenige, der seine eigene Landwirtschaft betreibt, nicht als eigentlich arbeitstätig bezeichnet wird. Auch die Zweifel der Beklagten, die darin gründen, dass nicht erklärlich sei, weshalb die Familie noch bedroht worden sei, wo doch das Bauvorhaben durch den ersten Angriff gestoppt worden sei, konnte der Kläger zu 1) ausräumen. Sowohl die Drohanrufe und persönlichen Bedrohungen wie auch schließlich der auf dem Grundstück der Kläger erfolgende Überfall hingen nach den nachvollziehbaren Aussagen des Klägers zu 1) damit zusammen, dass nach der Ermordung seines Vaters Anzeige bei der Polizei erstattet worden war. Die Bedrohungen und der letzte Angriff sollten augenscheinlich dazu dienen, den Kläger zu 1) und seine Familie dazu zu bringen, diese Anzeige zurückzuziehen. Schließlich vermochte der Kläger zu 1) auch den Überfall auf seinem Grundstück gegen seine Familie am 28. März 2013, das fluchtauslösende Moment, glaubhaft zu schildern. Er vermochte insbesondere detailreich darzulegen, wie er die Situation wahrgenommen hat, als er aus der Küche kam und die übrigen Familienmitglieder bereits auf der Veranda saßen. Detailreich ist daneben auch die Schilderung, wie es dem Kläger zu 1) gelang einen vermummten Angreifer zu erkennen und in ihm einen derjenigen Angreifer wiederzuerkennen, die auch bereits gegen den Bau der Moschee vorgegangen waren. All diese Schilderungen bewegten den Kläger erkennbar sehr, veranlassten ihn indes nicht, seine Rolle in diesem Geschehen in einem besonders guten Licht erscheinen zu lassen. Übertrieben erscheint dem Einzelrichter auch nicht die Darstellung, dass die Bedrohungen durch Personen erfolgten, die sich auch als Taliban ausgegeben haben. Die Nähe extremer Sunniten zu den Taliban ist gerichtsbekannt.

Die Geschehensschilderungen des Klägers zu 1) passen zu den Erkenntnissen des Gerichts von der allgemeinen Situation in Pakistan. So führt der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 23. April 2014 u.a. aus, dass es in den letzten Jahren vor allem zwischen radikalen Sunniten und der schiitischen Minderheit immer wieder zu Gewaltakten komme. Auch Verbindungen der Polizei zu örtlichen Politikern und zu den Taliban werden bestätigt. So heißt es in demselben Lagebericht, die Polizeikräfte seien oftmals in lokale Machtstrukturen eingebunden und daher nicht in der Lage, unparteiliche Untersuchungen durchzuführen. So würden häufig Strafanzeigen gar nicht erst aufgenommen und Ermittlungen verschleppt. Die Erkenntnisse des Auswärtigen Amtes zu religiös motivierten Übergriffen bestätigen auch andere Quellen (vgl. ai, Pakistanreport 2015; GOV.UK, Pakistan-Country of Concern).

Aus dem glaubhaften Vorbringen des Klägers ergibt sich gleichsam, dass staatliche Behörden erwiesenermaßen in seinem Fall nicht willens waren, Schutz gegen nichtstaatliche Übergriffe auf ihn und seine Familie zu bieten. Generell ist ein solcher Schutz gemäß § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylVfG gewährleistet, wenn die in Abs. 1 genannten staatlichen Akteure geeignete Schritte einleiten, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat. An letzterem fehlt es hier im konkreten Fall der Kläger nach dem überzeugenden Vorbringen des Klägers zu 1).

Die Angriffe waren schließlich religiös motiviert, da sie sich erkennbar gegen den Kläger und seine Familie als engagierte Schiiten richteten und von radikalen Sunniten ausgeführt worden sind.

Da sich die Übergriffe, insbesondere der Angriff am 28. März 2013 gegen die gesamte Familie der Kläger gerichtet hat, ist diesen, auch wenn der Kläger zu 1) der Hauptverfolgte ist, die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und sind die übrigen Kläger nicht auf den Familienschutz nach § 26 Abs. 5 AsylVfG zu verweisen. [...]