VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 10.02.2015 - 6a K 1029/14.A - asyl.net: M23290
https://www.asyl.net/rsdb/M23290
Leitsatz:

Es bestehen Anhaltspunkte dafür, dass Angehörige der Partei "Vereinigte Nationale Bewegung" in Georgien im Anschluss an den Regierungswechsel verhaftet worden sind und dass ein Teil dieser Verhaftungen möglicherweise auch politisch motiviert gewesen sein könnte. Derartige Maßnahmen haben sich aber offenbar im Wesentlichen auf ehemalige Regierungsmitglieder, hohe Beamte und exponierte Parteifunktionäre bezogen.

Schlagwörter: Georgien, Georgischer Traum, Vereinigte Nationale Bewegung, Regierungswechsel, politische Verfolgung, Georgischer Traum,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Betrachtet man zunächst die der Kammer unabhängig von dem Verfahren der Kläger vorliegenden Erkenntnisse über die Situation in Georgien, so liegt die Gefahr einer politischen Verfolgung der Kläger wegen der Geschehnisse im Zusammenhang mit dem Regimewechsel der Jahre 2012/2013 in Georgien eher fern. Es besteht weitgehend Einigkeit dass es sich bei dem Übergang der Regierungsmacht von der "Vereinigten Nationalen Bewegung" auf den "Georgischen Traum" (Oktober 2012) und des Präsidentschaftsamts von Micheil Saakaschwili auf Giorgi Margwelaschwili (Oktober 2013) grundsätzlich um einen friedlichen demokratischen Machtwechsel gehandelt hat (vgl. etwa Bundesamt für Migration und Flüchtlinge u.a.: Georgien – Basisinformationen (Stand: 26. November 2012); Auswärtiges Amt: Länderinformationen Georgien (Internet- Angebot www.auswaertiges-amt.de, Stand: Oktober 2014); Amnesty International, Amnesty Report 2013 Georgien; Süddeutsche Zeitung vom 24. Oktober 2013, S 17).

Allerdings ergeben sich aus den der Kammer vorliegenden Erkenntnissen auch Anhaltspunkte dafür, dass Angehörige der Partei "Vereinigte Nationale Bewegung" im Anschluss an den Regierungswechsel verhaftet worden sind und dass ein Teil dieser Verhaftungen möglicherweise auch politisch motiviert gewesen sein könnte. Derartige Maßnahmen haben sich aber offenbar im Wesentlichen auf ehemalige Regierungsmitglieder, hohe Beamte und exponierte Parteifunktionäre bezogen. So heißt es, es seien "zahlreiche hochrangige Funktionäre und Mitglieder der Partei Vereinigte Nationale Bewegung vernommen und verhaftet" worden (Amnesty Report 2013 Georgien), Micheil Saakaschwili sei "nur der prominenteste aus einer ganzen Reihe ehemaliger Regierungsmitglieder und hoher Beamter, denen in den letzten Monaten der Prozess gemacht" worden sei (Süddeutsche Zeitung vom 12. August 2014, S. 7), die Regierung habe bereits im Dezember 2012 50 führende Regierungsmitarbeiter ("senior administration officials") angeklagt (US-Department of State, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor: Georgia 2013 Human Rights Report, S. 2), es werde die Verfolgung früherer Regierungsmitglieder beklagt (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. November 2012, S. 14). In der Berichterstattung über die Vorgänge wird betont, es sei schwer auszumachen, "wo dabei der Rechtsstaat endet und politisch motivierte Verfolgung beginnt" (Süddeutsche Zeitung vom 12. August 2014, S. 19). Auch der von der Klägerin angesprochene Prozess gegen den früheren Premierminister Vano Merabischwili und andere Funktionäre der früheren Regierung wird in den vorliegenden Erkenntnissen erwähnt. Merabischwili wird vorgeworfen, Geld aus dem Staatshaushalt in den Wahlkampf der eigenen Partei geschleust zu haben (Süddeutsche Zeitung vom 2. August 2013, S. 16). Im Zusammenhang mit derartigen Vorwürfen gegen die "Vereinigte Nationale Bewegung" sollen 6.156 Personen von der Staatsanwaltschaft befragt worden sein (als Behauptung der Nationalen Bewegung wiedergegeben im Georgia 2013 Human Rights Report des US-Department of State, Bureau of Democracy, Human Rights and Labor, S. 39). Dass über den Kreis der führenden bzw. höheren Partei- und Regierungsfunktionäre hinaus Mitglieder oder Mitarbeiter der früheren Regierungspartei aus politischen Gründen inhaftiert oder körperlich bedroht worden sind, lässt sich den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen hingegen nicht entnehmen.

Vor dem Hintergrund dieser Auskunftslage kann eine politische Verfolgung der Klägerin zu 1. und ihrer Familie nicht ohne Weiteres festgestellt werden. Zwar ist nach den vorgenannten Erkenntnissen die Behauptung der Klägerin zu 1., sie habe eine Vorladung der Staatsanwaltschaft erhalten, um zu den gegen die frühere Regierung erhobenen Vorwürfen im Zusammenhang mit der Parlamentswahl 2012, namentlich der etwaigen Veruntreuung von Staatsgeldern für Wahlkampfzwecke, auszusagen, plausibel. Dass die Klägerin, die sich selbst als "kleines Licht" und als eine von 3.000 Bezirkskoordinatoren in der Partei bezeichnet hat, indes ernsthaft der Gefahr ausgesetzt war und ist, selbst inhaftiert zu werden, liegt auf der Grundlage der zitierten Berichte wenig nahe. Die Berichte stimmen darin überein, dass die – möglicherweise auch politisch motivierten – Verhaftungen sich auf höhere Partei- und Regierungsfunktionäre bezogen haben. Hätte es in größerem Umfang Inhaftierungen auch einfacher Parteimitglieder bzw. -mitarbeiter gegeben, so wäre dies sicherlich Gegenstand der Presseberichterstattung und der Bewertung durch die Menschenrechtsorganisationen gewesen.

Der konkrete Vortrag der Kläger im Rahmen des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens ist ebenfalls nicht geeignet, die beachtliche Gefahr einer politischen Bedrohung zu belegen. Als Übergriff von hinreichendem Gewicht für die Annahme politischer Verfolgung wäre möglicherweise der Vorfall vom September 2013 einzustufen, bei dem der ältere Sohn der Klägerin, der heute achtzehnjährige N., verprügelt worden ist. Es lässt sich indessen nicht feststellen, dass dieser Angriff in einer dem § 3c AsylVfG entsprechenden Weise dem georgischen Staat oder der jetzt herrschenden Partei zuzurechnen ist. Die Klägerin zu 1. hat davon gesprochen, "die Jungs" bzw. "mehrere Kinder" hätten ihren Sohn verprügelt. Dass dies auf Veranlassung oder mit Billigung des Staates geschehen sein könnte, ist nicht ersichtlich. Dasselbe gilt für die Behauptung der Tochter der Klägerin, sie sei von Klassenkameraden gefragt worden, ob sie sich nicht schäme, dass ihre Mutter bei der Nationalen Bewegung sei.

Ebenso wenig taugen die Erklärungen der Klägerin zu 1. betreffend den Besuch von Personen, die sich als Mitarbeiter einer "nicht staatlichen Organisation" vorgestellt haben sollen, zum Beleg einer politischen Verfolgung. Die eingehende Befragung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung zu diesem "Besuch" hat ergeben, dass es sich dabei möglicherweise um eine schlichte Meinungsumfrage gehandelt haben könnte. Die Klägerin hat jedenfalls nicht behauptet, anlässlich dieses Gesprächs in irgendeiner Weise bedroht oder unter Druck gesetzt worden zu sein. Dass dieser "Besuch" Ausdruck einer Bedrohung durch die jetzige Regierungspartei "Georgischer Traum" sein könnte, liegt aber auch deshalb fern, weil der Vorfall nach den Angaben der Klägerin bereits vor der Parlamentswahl stattgefunden haben soll. Zu diesem Zeitpunkt war der "Georgische Traum" selbst noch eine Oppositionspartei. Festzustellen ist im Übrigen, dass die Schilderung dieses "Besuchs" eine Reihe von Ungereimtheiten aufweist. So hat die Klägerin zum Beispiel bekundet, sie sei nach dem Vorfall von Leuten der Nationalen Bewegung angerufen und sinngemäß gelobt worden: "Bravo, dass Du uns nicht verraten hast". Dies ergibt wenig Sinn, weil die Nationale Bewegung zu diesem Zeitpunkt – vor der Wahl – noch Regierungspartei war und es somit keiner großen Courage bedurfte, sich zu ihr zu bekennen. Auch hat die Klägerin sowohl gegenüber dem Bundesamt als auch gegenüber dem Gericht jeweils zunächst anklingen lassen, man habe ihre Wohnung "verwanzt" bzw. "Abhöreinrichtungen" geschaffen, um dann bei näherer Befragung einzuräumen, dass man mit dem liegen gebliebenen Gerät möglicherweise auch nur das "Umfragegespräch" habe mitschneiden wollen.

Haben die vorgenannten konkreten Vorfälle somit außer Betracht zu bleiben, so lassen sich lediglich die von der Klägerin zu 1. angesprochenen Telefonanrufe, in denen sie im Zusammenhang mit der von ihr geforderten Aussage zu dem Handeln der früheren Regierung bedroht worden sein soll, als Indiz für eine politische Verfolgung anführen. Insoweit sind die Angaben der Klägerin indes derart pauschal und vage, dass die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung sich nicht auf sie stützen lässt. Soweit die Telefonanrufe teilweise auch von Mitgliedern oder Anhängern der "Vereinigten Nationalen Bewegung", ihrer eigenen Partei, ausgegangen sein sollen, stellt sich im Übrigen erneut die Frage, ob diese Bedrohung im Sinne von § 3c AsylVfG dem georgischen Staat bzw. dem jetzt herrschenden Parteienbündnis zuzurechnen ist.

Für das Gericht ist schließlich trotz eingehender Befragung nicht klar geworden, warum die Klägerin nicht bei der Staatsanwaltschaft ihre Aussage gemacht hat. Als "kleines Licht" war sie für die der früheren Regierung vorgeworfene Veruntreuung von Staatsgeldern ja nicht verantwortlich und dürfte auch nicht über Informationen verfügt haben, die nicht ohnehin einem breiten Kreis von Personen bekannt gewesen sind. Dass eine andere "Koordinatorin" der Partei im Anschluss an ihre Aussage selbst verhaftet worden ist, wie die Klägerin in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, lässt sich insoweit nicht als Indiz für eine generell bestehende Gefahr fruchtbar machen, weil die näheren Hintergründe dieser Verhaftung der Klägerin und dem Leiter der übergeordneten Parteiebene, auf den die Klägerin sich in der mündlichen Verhandlung bezogen hat, offenbar nicht bekannt sind. Warum die Klägerin glaubt, man habe von ihr eine "Falschaussage" hören wollen, ist für das Gericht auch nach ihrer Befragung nicht deutlich geworden.

Insgesamt lässt sich anhand der Erklärungen der Klägerin zu 1. nur eine recht diffuse Angst vor Repressalien wegen ihrer Tätigkeit für die "Vereinigte Nationale Bewegung", nicht aber die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer politischen Verfolgung im Rechtssinne feststellen.

Welche Bedeutung es für die Glaubhaftigkeit und Zuverlässigkeit der Erklärungen der Klägerin zu 1. hat, dass sie die georgische Parlamentswahl zeitlich in das Frühjahr 2013 verortet hat, während die Wahl tatsächlich am 1. Oktober 2012 stattgefunden hat, kann nach alledem offen bleiben. Dahin stehen kann auch, ob die Kläger sich nicht zumindest einem Teil der behaupteten Bedrohungen und Belästigungen –namentlich den Belästigungen der Kinder durch Klassenkameraden etc. – durch einen Umzug innerhalb Georgiens hätten entziehen können. [...]