LSG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 09.10.2015 - L 5 AS 643/15 B ER - asyl.net: M23304
https://www.asyl.net/rsdb/M23304
Leitsatz:

Setzt eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 23 Abs. 1 AufenthG die Sicherung des Lebensunterhalts etwa durch Abgabe einer Verpflichtungserklärung gem. § 68 AufenthG voraus, so liegt bei der Gewährung von Flüchtlingsschutz und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 25 Abs. 2 1. Alt. AufenthG ein Zweckwechsel vor, da dieser Aufenthaltstitel eine Verpflichtungserklärung gerade nicht vorsieht.

Eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG bietet keine Anspruchsgrundlage des Betroffenen gegen den Verpflichteten, da diese Vorschrift die Regressmöglichkeit der Behörden gegen den Garantiegeber begründet.

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Flüchtlingsanerkennung, hilfebedürftig, Sicherung des Lebensunterhalts, Wechsel des Aufenthaltszwecks, Hilfebedürftigkeit, Sozialleistungen,
Normen: AufenthG § 23 Abs. 1, AufenthG § 68, AufenthG § 25 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Der Beweismaßstab im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes erfordert im Gegensatz zu einem Hauptsacheverfahren für das Vorliegen der anspruchsbegründenden Tatsachen nicht die volle richterliche Überzeugung. Dies erklärt sich mit dem Wesen dieses Verfahrens, das wegen der Dringlichkeit der Entscheidung regelmäßig keine eingehenden, unter Umständen langwierigen Ermittlungen zulässt. Deshalb kann im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur eine vorläufige Regelung längstens für die Dauer des Klageverfahrens getroffen werden, die das Gericht in der Hauptsache nicht bindet.

Ein Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen überwiegend wahrscheinlich sind. Dies erfordert, dass mehr für als gegen die Richtigkeit der Angaben spricht (MeyerLadewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. § 86b Rn. 16b).

Die Antragsteller haben nicht ausdrücklich angegeben, ab welchem Zeitpunkt sie die Bewilligung vorläufiger Leistungen beanspruchen. Grundsätzlich kommt eine Verpflichtung zur Bewilligung von Leistungen für die Zeit vor Stellung des Antrags auf Erlass einer Regelungsanordnung nicht in Betracht. Das Rechtsmittel des einstweiligen Rechtsschutzes hat vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) die Aufgabe, in den Fällen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten, in denen eine Entscheidung in dem grundsätzlich vorrangigen Verfahren der Hauptsache zu schweren und unzumutbaren, nicht anderes abwendbaren Nachteilen führen würde, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschlüsse vom 22. November 2001, Az. 1 BvR 1586/02, NJW 2003 S. 1236 u. vom 12. Mai 2005, Az. 1 BvR 569/05, Breithaupt 2005, S. 803). Es beruht auf dem sozialhilferechtlichen, auch für das Recht des SGB II geltenden Grundsatz, dass Hilfe zum Lebensunterhalt im Wege der einstweiligen Anordnung nur zur Behebung einer gegenwärtigen Notlage zu erfolgen hat und grundsätzlich nicht rückwirkend zu bewilligen ist. Dies gilt nur dann nicht, wenn glaubhaft gemacht ist, dass eine in der Vergangenheit eingetretene Notlage in die Gegenwart hinein wirkt, wenn also fehlende oder unzulängliche Leistungen in der Vergangenheit wirtschaftliche Auswirkungen in der Gegenwart zeitigen. Eine insoweit rückwirkende Verpflichtung des Leistungsträgers zur vorläufigen Leistungsgewährung ist daher grundsätzlich vom Fortbestehen der Notlage oder von einem aktuell noch bestehenden Nachholbedarf abhängig (vgl. Beschluss des erkennenden Senats vom 26. August 2010, L 5 AS 353/10 B ER, Rn. 33, Juris).

Da die Antragsteller eine bereits vor Antragstellung eingetretene Notlage nicht geltend gemacht haben, geht der Senat davon aus, dass sie zulässigerweise die Gewährung vorläufiger Leistungen ab dem 9. Juni 2015 (Tag des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Regelungsanordnung beim Sozialgericht Magdeburg) begehren.

Die Antragsteller haben einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Sie erfüllen die Voraussetzungen der §§ 19, 7, 8 und 9 SGB II. Sie sind insbesondere hilfebedürftig nach § 9 SGB II, da sie nicht in der Lage sind, ihren Bedarf durch Einkommen oder Vermögen zu decken. Sie haben keinen Anspruch auf Sicherung des Lebensunterhaltes gegen den Bruder des Antragstellers aus der von ihm abgegebenen Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG.

Zum einen entfaltete diese mit Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG keine Wirkung mehr.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts endet die mit der Erklärung übernommene Unterhaltsverpflichtung nach Maßgabe der Auslegung im Einzelfall erst mit dem Ende des vorgesehenen Aufenthalts oder dann, wenn der ursprüngliche Aufenthaltszweck durch einen anderen ersetzt und dies aufenthaltsrechtlich anerkannt worden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998, 1 C 33.97, Rn. 34, Juris), bzw. wenn der Ausländer ein von der Sicherung des Lebensunterhaltes unabhängiges Aufenthaltsrecht erwirbt (vgl. BSG, Beschluss vom 16. Oktober 2010, B 8 AY 1/09 R, Rn. 7. Juris).

Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Nach § 23 Abs. 1 AufenthG kann die oberste Landesbehörde aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland anordnen, dass Ausländern aus bestimmten Staaten oder in sonstiger Weise bestimmten Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Die Anordnung kann unter der Maßgabe erfolgen, dass eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abgegeben wird. Die Regelung beinhaltet eine Anordnungsbefugnis auf Erteilung einer Aufnahmezusage (vgl. BVerwG, Urteil vom 11. November 2011, 1 C 21.10, Rn. 11, Juris). Sie ist allerdings daran gekoppelt ist, dass der Lebensunterhalt des Ausländers gesichert ist, hier durch die Abgabe der Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG. Mit Bescheid vom 24. März 2015 erhielten die Antragsteller eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 1. Alt. AufenthG, mithin einen neuen Aufenthaltstitel. Das Vorhandensein einer Verpflichtungserklärung setzt dieser Aufenthaltstitel gerade nicht voraus.

Zum anderen bietet die Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG für die Antragsteller keine Anspruchsgrundlage auf Zahlungen vom Bruder des Antragstellers. Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hat, wer sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen. Er hat sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum und der Versorgung im Krankheitsfalle und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen.

Nach Absatz 2 der Vorschrift bedarf die Verpflichtung der Schriftform; sie ist nach Maßgabe des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes vollstreckbar. Diese Regelung setzt die Befugnis der erstattungsberechtigten Stelle voraus, den Erstattungsanspruch durch Verwaltungsakt (Leistungsbescheid) geltend zu machen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014, 1 C 4.13, Rn. 8, Juris). Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift die Regressmöglichkeit der Behörden dem Garantiegeber gegenüber ausgestaltet (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. April 2013, Rn. 30, Juris), nicht Ansprüche zwischen ihm und den die Garantie betreffenden Ausländer regeln wollen. [...]