VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 25.07.2015 - 19 K 116.15 - asyl.net: M23315
https://www.asyl.net/rsdb/M23315
Leitsatz:

Eine Abschiebung ist rechtswidrig, wenn ihr keine Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vorausgeht.

Schlagwörter: nachträgliche Befristung, Abschiebung, Wirkung der Abschiebung, Heilung, Befristungsentscheidung, Befristung,
Normen: AufenthG § 11 Abs. 1 S. 3, VwVfG § 45,
Auszüge:

[...]

Rechtsgrundlage der Befristungsentscheidung ist § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG. Danach werden die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen auf Antrag befristet. § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass ein Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf (Einreisesperre). Nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG wird ihm auch bei Vorliegen der Voraussetzungen eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt (Titelerteilungssperre).

Die Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG setzt voraus, dass die in § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG bezeichneten Wirkungen tatsächlich auch eingetreten sind. Daran fehlt es hier. Denn die am 29. Oktober 2013 erfolgte Abschiebung des Klägers war rechtswidrig. Die Abschiebung war daher nicht geeignet, die Wirkungen des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG nach sich zu ziehen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 8. Juli 2010 - OVG 3 S 26.10 -, juris Rn. 24; VG Berlin, Urteile vom 12. November 2014, a.a.O., S. 3 f. d. Abdr., und vom 27. Juni 2008, a.a.O.; zu der vergleichbaren Rechtslage nach § 8 Abs. 2 AuslG auch schon BVerwG, Urteile vom 7. Dezember 2004 - BVerwG 1 C 14/04 -, NVwZ 2005, 704, und vom 16. Juli 2002 - BVerwG 1 C 8/02 -, NVwZ 2003, 217 218>).

Die Abschiebung des Klägers war rechtswidrig, weil ihr keine Befristungsentscheidung gemäß § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG vorausging. Zwar geht § 11 Abs. 1 AufenthG vom Konzept der nachträglichen Befristung aus. Dies steht jedoch nicht im Einklang mit der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. Nr. L 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98; sog. Rückführungsrichtlinie), der ein anderes Konzept zugrunde liegt. Nach der Rückführungsrichtlinie ist das Einreiseverbot stets mit einer bestimmten zeitlich begrenzten Geltungsdauer auszusprechen, die in Anbetracht der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festzusetzen ist; ein zeitlich unbefristetes Einreiseverbot, wie § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG es bestimmt, lässt die Rückführungsrichtlinie nicht zu (vgl. Art. 3 Nr. 6 sowie Art. 11 Abs. 1 und 2 der Rückführungsrichtlinie). Daher ist § 11 Abs. 1 AufenthG unionsrechtskonform dahingehend anzuwenden, dass die Befristungsentscheidung im Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie spätestens einen Tag vor dem Vollzug der Abschiebung getroffen und bekanntgegeben werden muss (vgl. eingehend OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 21. März 2014 - OVG 12 S 113.13 -, juris Rn. 14 ff.; ähnlich Hessischer VGH, Beschluss vom 13. Oktober 2014 - VGH 7 B 1413/14 -, juris Rn. 10 ff.; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 19. Dezember 2012 - VGH 11 S 2303/12 -, juris Rn. 8 m.w.Nachw.). Der Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie ist vorliegend auch eröffnet (vgl. Art. 2 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie).

Die fehlende vorherige Befristungsentscheidung hat die Rechtswidrigkeit der Abschiebung zur Folge, weil sie dazu führte, dass der Abschiebung zum Zeitpunkt ihres Vollzugs ein rechtliches Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegenstand (vgl. ausdrücklich VG Berlin, Beschluss vom 2. Oktober 2013 - VG 19 L 237.13 -, juris Rn. 22; ferner auch Hessischer VGH, Beschluss vom 13. Oktober 2014, a.a.O., Rn. 11: rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung; für eine Rechtswidrigkeit der Abschiebung im Ergebnis etwa auch VG Berlin, Urteil vom 12. November 2014, a.a.O., S. 4 d. Abdr.). Dem Kläger stand ein subjektiv-öffentliches Recht darauf zu, dass ihm vor Durchführung der Abschiebung die ausländerbehördliche Entscheidung über die Befristung des an diese anknüpfenden Einreise- und Aufenthaltsverbots bekannt gegeben wird und er hinreichend Zeit hat, in Bezug auf diese Entscheidung einen Rechtsbehelf einzulegen (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 13. Oktober 2014, a.a.O.). Die unter Missachtung des Abschiebungshindernisses erfolgte Abschiebung war rechtswidrig und vermochte die gesetzlichen Sperrwirkungen des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG nicht auszulösen (vgl. BVerwG, Urteil vom 7. Dezember 2004, a.a.O.).

Die von dem Beklagten im Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 2015 angeführten Entscheidungen des Verwaltungsgerichts Berlin vom 27. Juni 2014 - VG 19 L 139.14 - und des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 2. Juli 2014 - OVG 12 S 44.14 - stehen der Annahme der Rechtswidrigkeit der Abschiebung nicht entgegen. In dem zugrunde liegenden Fall ging es um die Frage, ob der Kläger im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Löschung seiner Einreisesperre beanspruchen konnte, um zum Zweck der Teilnahme an der für den 3. Juli 2014 vor dem Verwaltungsgericht Berlin anberaumten mündlichen Verhandlung in seinem Asylverfahren in das Bundesgebiet einreisen zu können. Dies haben das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht mit der Begründung verneint, es fehle jedenfalls an dem erforderlichen Anordnungsgrund ; die Löschung der Einreisesperre sei nicht erforderlich, um wesentliche Nachteile abzuwenden; dem geltend gemachten Interesse des Klägers könne auch mit einer Betretenserlaubnis gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG Rechnung getragen werden, deren Voraussetzungen allerdings nicht vorlägen. Anders als der Beklagte meint, sind das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht damit nicht davon ausgegangen, die Abschiebung des Klägers sei rechtmäßig erfolgt. Zur Frage der Rechtmäßigkeit der Abschiebung verhalten sich die Entscheidungen letztlich nicht; die Rechtmäßigkeit der Abschiebung wird auch nicht unterstellt. Die Entscheidungen knüpfen daran an, dass die Einreisesperre - unabhängig von dem rechtlichen Eintritt der Sperrwirkungen - tatsächlich eingetragen ist und somit zumindest faktisch wirkt. Zur Überwindung einer solchen zumindest faktisch wirkenden Einreisesperre sehen das Verwaltungsgericht und das Oberverwaltungsgericht im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Betretenserlaubnis gemäß § 11 Abs. 2 AufenthG als das geeignete und ausreichende Instrument an. Dies jedenfalls dann, wenn es - wie im Fall des Klägers - lediglich um eine kurzfristige, anlassbezogene (Wieder-) Einreise geht, die eine grundlegende Klärung der Frage, ob die Abschiebung rechtmäßig und somit geeignet war, die Sperrwirkungen aus § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG rechtswirksam auszulösen, nicht erfordert. Insoweit stellte sich die Situation auch anders dar als in den Fällen, in denen im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes im Wege der Folgenbeseitigung letztlich eine Rückgängigmachung der Abschiebung erreicht werden soll. In diesen Fällen prüfen die Gerichte als Voraussetzung eines entsprechenden Folgenbeseitigungsanspruchs mitunter in der Tat ausdrücklich, ob die Abschiebung rechtswidrig war, wobei wegen des Vorwegnahmecharakters der Eilentscheidung die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Abschiebung gefordert wird (vgl. etwa VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 11. März 2008 - VGH 13 S 418/08 -, juris Rn. 7).

Eine Heilung des Rechtsfehlers durch die nachträgliche Befristungsentscheidung vom 12. März 2014 kommt nicht in Betracht. Insbesondere sind die Heilungsmöglichkeiten des § 45 VwVfG (i.V.,m. § 1 Abs. 1 VwVfG Bln) nicht einschlägig. Dies schon deshalb nicht, weil § 45 VwVfG - jedenfalls unmittelbar - nur auf Verwaltungsakte anwendbar ist, die Abschiebung aber einen Realakt darstellt (vgl. nur Oberhäuser, in: Hofmann/Hoffmann <Hrsg.>, Ausländerrecht, 2008, § 58 AufenthG Rn. 31). Eine entsprechende Anwendung von § 45 VwVfG scheidet jedenfalls deshalb aus, weil es angesichts des Schutzzwecks der Befristungsregelungen aus der Rückführungsrichtlinie und des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG an einer vergleichbaren Interessenlage fehlt (vgl. zur Analogiefähigkeit von § 45 VwVfG allgemein nur Kopp/Ramsauer, VwVfG, 12. Aufl. 2011, § 45 Rn. 8 f.).

Schließlich kann der Eintritt der gesetzlichen Sperrwirkungen des § 11 Abs. 1 Satz 1 und 2 AufenthG auch nicht damit begründet werden, dass mit der nachträglichen Befristung zwar nicht die Rechtswidrigkeit der Abschiebung geheilt werde, aber nunmehr ein "materiell rechtmäßiger Zustand" erreicht sei (so das Vorbringen des Beklagten in dem Verfahren VG 15 K 252.14; vgl. VG Berlin, Urteil vom 12. November 2014, a.a.O., S. 3 d. Abdr.). Diese Sichtweise geht an der gesetzlichen Systematik des § 11 Abs. 1 AufenthG vorbei. Danach werden die den Ausländer belastenden Wirkungen schon und nur von der Maßnahme der Abschiebung selbst ausgelöst, sofern die Abschiebung rechtmäßig ist (s.o.). Eine der Abschiebung nachfolgende Befristungsentscheidung vermag die Sperrwirkungen demgegenüber nicht (mehr) auszulösen. Davon unabhängig ist es auch aus rechtsstaatlichen Gründen nicht hinnehmbar, dass eine - ungeachtet der späteren Befristung - nach wie vor rechtswidrige staatliche Maßnahme gegenüber dem Betroffenen (zeitlich verzögert) belastende Wirkungen zeitigt (so zu Recht VG Berlin, Urteil vom 12. November 2014, a.a.O., S. 4 d. Abdr.). [...]