LSG Hessen

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Zitieren als:
LSG Hessen, Beschluss vom 18.09.2015 - L 7 AS 431/15 B ER - asyl.net: M23386
https://www.asyl.net/rsdb/M23386
Leitsatz:

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II für Arbeitsuchende gilt auch für Personen ohne materielles Aufenthaltsrecht, die Staatsangehörige eines anderen europäischen Mitgliedsstaates sind. Eine Ausschlussnorm ist einer erweiternden Auslegung unter bestimmten hier vorliegenden Voraussetzungen zugänglich.Zu den Voraussetzungen der Arbeitnehmereigenschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: SGB II, Unionsbürger, Arbeitnehmereigenschaft, Leistungsausschluss, Europäisches Fürsorgeabkommen, EFA, geringfügige Beschäftigung, unwesentliche Tätigkeit,
Normen: SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Der Antrag der Antragstellerin auf vorläufige Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II war schon mangels Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs abzulehnen, ohne dass es noch auf eine Folgenabwägung ankäme, weil einem Anordnungsanspruch für den gesamten streitigen Zeitraum bereits der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entgegensteht. Schon aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 11. November 2014 in der Rechtssache C-333/13 (Dano) stand fest, dass der zuvor genannte Leistungsausschluss mit europäischem Recht in Einklang steht. Seine gegenteilige Rechtsprechung (u.a. Beschlüsse vom 14. Juli 2011, L 7 AS 107/11 B ER und vom 18. Dezember 2012, L 7 AS 624/12 BER sowie Urteil vom 20. September 2013, L 7 AS 474/13 - sämtlich in [...]) hat der erkennende Senat daher schon mit dem in [...] veröffentlichten Beschluss vom 11. Dezember 2014 aufgegeben (L 7 AS 528/14 B ER). Auf die dortige ausführliche Begründung nimmt der Senat im Rahmen dieses Beschlusses ausdrücklich Bezug.

Nach dem nunmehr mit ausführlichen Entscheidungsgründen vorliegenden Urteil des EuGH vom 15. September 2015 in der Rechtssache C-67/14 (Alimanovic - siehe CURIA - Dokumente) kann hieran trotz der von anderen Spruchkörpern bis dato aufrechterhaltenen Bedenken kein Zweifel mehr bestehen.

Dabei kann offen bleiben, ob die Antragstellerin im streitigen Zeitraum überhaupt ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland hatte. Wenn der Antragstellerin ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Alt. FreizügG/EU a.F. bzw. § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU in seiner ab 9. Dezember 2014 gültigen Fassung zustand, war sie nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ausgeschlossen. Dies stellt ebenfalls keinen Verstoß gegen europäisches Recht dar (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 11. Dezember 2014, L 7 AS 528/14 B ER, [...], Rdnr. 40 ff.). Wenn den Antragstellern kein Aufenthaltsrecht zusteht, erfüllen sie nicht die Anspruchsvoraussetzungen zur Gewährung von Leistungen der Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, weil die in § 7 Abs. 1 SGB II für die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II aufgeführten Anspruchsvoraussetzungen um die ungeschriebene Anspruchsvoraussetzung des Bestehens eines Aufenthaltsrechts in der Bundesrepublik Deutschland zu erweitern sind (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 11. Dezember 2014, L 7 AS 528/14 B ER, [...], Rdnr. 45 ff.) Auch dies stellt keinen Verstoß gegen europäisches Recht dar (siehe dazu ausführlich Beschluss des Senats vom 11. Dezember 2014, L 7 AS 528/14 B ER, [...], Rdnr. 58 ff.).

Soweit hiergegen eingewandt wird, dieser erweiternden Auslegung stehe die Rechtsprechung des BSG entgegen, wonach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II als Ausschlussnorm eng auszulegen sei, vermag dem der erkennende Senat nur soweit zu folgen (siehe etwa Senatsbeschluss vom 19. September 2012, L 7 AS 30/12 B ER, [...] Rn. 38), als bei Vorliegen eines Aufenthaltsrechts aus anderen Gründen die genannte Ausschlussnorm nicht greift, wie das BSG mit seinem Urteil vom 30. Januar 2013 (B 4 AS 54/12 R - [...] Rn. 26) ausgeführt hat. Nicht erfasst werden durch diese Entscheidung jedoch die Fälle, in denen keinerlei materielles Aufenthaltsrecht besteht und damit der aufenthaltsrechtliche Status der betreffenden Person noch hinter dem Aufenthaltsstatus zurückbleibt, der zum Leistungsausschluss führt. Maßgebend für die Auslegung einer Norm ist der im Gesetzeswortlaut objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist (vgl. BVerfGE 1, S. 312). Dabei ist entsprechend dem in § 133 BGB zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgedanken nicht am buchstäblichen Ausdruck zu haften, sondern auf den Sinn der Norm abzustellen und davon auszugehen, dass das Gesetz eine zweckmäßige, vernünftige und gerechte Regelung treffen will. Von Ausnahme - vorschriften sagt man (wie zuvor), sie seien eng auszulegen und keiner Analogie fähig. Das trifft in dieser Allgemeinheit jedoch nicht zu. In den Grenzen ihres Gesetzeszweckes ist auch bei Ausnahmevorschriften eine erweiternde Auslegung oder Analogie statthaft (so zutr.: Sprau in Palandt, BGB-Komm., 74. Aufl. 2015, Einl. vor § 1, Rn. 53 unter Hinw. auf BGH 26, 78/83; BAG NJW 69-74; BayObLG NJW 00, 1875).

Die offenbare Sinnwidrigkeit eines bei buchstäblicher Auslegung der Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II eintretenden Ergebnisses, nach dem Personen ohne materielle Aufenthaltserlaubnis im Gegensatz zu Personen mit einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche Leistungen nach dem SGB II beanspruchen könnten, rechtfertigt nach den zuvor dargestellten Auslegungsregeln zur Überzeugung des Senats auch im Hinblick auf die zuvor zitierte inzwischen gefestigte Rechtsprechung des EuGH die zuvor dargelegte erweiternde Auslegung der Ausschlussnorm, weil der Gesetzgeber bei der Formulierung der Ausschlussnorm, mit der er die maßgeblichen europarechtlichen Regelungen umsetzen wollte (vgl. Spellbrink/G. Becker in Eicher, SGB II-Komm., 3. Aufl. 2013, § 7 Rn. 42 m.w.N.), offenbar das Bestehen überhaupt irgendeines Aufenthaltsrechts logisch vorausgesetzt hat. Insoweit besteht auch kein Widerspruch zu dem bereits zitierten Urteil des BSG vom 30. Januar 2013 (a.a.O.), denn in dem dort entschiedenen Fall entstand durch die vom BSG gewählte enge Auslegung kein sinnwidriges Ergebnis, weil sich die dortige Klägerin auf ein anderes Aufenthaltsrecht stützen konnte.

Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S2 Nr. 2 SGB II verstößt auch nicht gegen das Europäische Fürsorgeabkommen (EFA), weil der von der Bundesregierung hierzu erklärte Vorbehalt wirksam ist (so zutreffend: BSG, Beschluss vom 12. Dezember 2013, B 4 AS 9/13 R, [...] Rn. 23).

Der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren stand im streitigen Zeitraum auch kein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU zu.

Die Antragstellerin war aufgrund des Arbeitsvertrages vom 24. April 2015 ab 1. Mai 2015 keine Arbeitnehmerin i.S.d. § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU, weil es sich bei der ausgeübten geringfügigen Beschäftigung mit einer monatlichen Bruttovergütung i.H.v. 102 € für monatlich 12 Stunden Tätigkeit als Bürohilfe um eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit im Sinne der Rechtsprechung des EuGH handelt. Den Entscheidungen des EuGH lässt sich keine bestimmte Grenze in Bezug auf Einkommen und Arbeitszeit entnehmen, unterhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft verneint werden muss. Der EuGH hat vielmehr immer deutlich gemacht, dass eine vorzunehmende Würdigung der Gesamtumstände letztlich den Gerichten der Mitgliedstaaten vorbehalten bleibt (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Februar 2010 - Rs. C-14/09). In der nationalen Rechtsprechung finden sich einzelne Entscheidungen zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen eine unionsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft begründet wird. So wurden beispielsweise eine Tätigkeit von 5,5 Wochenstunden und später 36 Monatsstunden, sowie ein Entgelt von 154,00 € und danach 252,00 € (OVG Bremen, Urteil vom 28. September 2010 - 1 A 116/09), eine Wochenarbeitszeit von 7,5 Stunden und ein Lohn von 650,00 DM in 1997 (VG München, Urteil vom 2. Februar 1999 - M 21 K 98.750) bzw. eine Wochenarbeitszeit von 7,5 Stunden und ein Lohn von 100,00 € (BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010 - B 14 AS 23/10 R) sowie eine Wochenarbeitszeit von 5,5 Stunden und ein Lohn von 175,00 € (OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30. März 2011 - OVG 12 B 15.10) als (gerade noch) ausreichend angesehen. Dagegen wurde eine Arbeitszeit von 3 bis 4 Stunden an einem Arbeitstag pro Woche "zu einem völlig belanglosen Entgelt" (VG München, Urteil vom 2. Februar 1999 - M 21 K 98.750) und ein monatliches Entgelt von 300,00 € bei einer Wochenarbeitszeit von 10 bis 12 Stunden (VG Darmstadt, Urteil vom 22. Februar 2008, InfAuslR 2008, 344 f.) als völlig unwesentlich angesehen. Zuletzt hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in seinem Beschluss vom 17. Februar 2015 (L 31 AS 3100/14 B ER - in [...]) entschieden, dass eine an 5 Tagen in der Woche für jeweils 1 Stunde ausgeübte Tätigkeit mit einem monatlichen Verdienst in Höhe von 150,00 € brutto, die auch nur für einen Zeitraum von 2 Monaten nachgewiesen war, nicht die Voraussetzungen einer die Arbeitnehmereigenschaft i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU begründenden Tätigkeit erfüllt (a.a.O. [...] Rn. 10).

Weder den Entscheidungen des EuGH, des BSG oder der anderen nationalen Gerichte lässt sich folglich eine bestimmte Grenze in Bezug auf Einkommen oder Arbeitszeit entnehmen, oberhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft bejaht bzw. unterhalb derer die Arbeitnehmereigenschaft verneint werden muss (so schon: Senatsbeschluss vom 12. März 2015, L 7 AS 782/14 B ER). Feststellen lässt sich lediglich, dass die bisher entschiedenen Verfahren, in denen die Arbeitnehmereigenschaft verneint wurde, Fälle betrafen, in denen Arbeitszeit und Vergütung sogar noch deutlich über derjenigen der Antragstellerin im vorliegenden Fall lagen, wie auch in den Fällen der Bejahung der Arbeitnehmereigenschaft. Angesichts der außergewöhnlichen Geringfügigkeit von vereinbarter Vergütung und Arbeitszeit kann im vorliegenden Fall - und unabhängig von der Dauer des Beschäftigungsverhältnisses - auch der Umstand, dass ein ordnungsgemäßer schriftlicher Arbeitsvertrag mit Urlaubsregelung (3 Arbeitstage im Kalenderjahr) und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall vorliegt, nicht zur Begründung der Arbeitnehmereigenschaft im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU ausreichen.

Ebensowenig kann sich die Antragstellerin auf ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige nach § 3 FreizügG/EU stützen, weil sie in dem hier noch maßgeblichen Zeitraum noch nicht mit ihrem jetzigen Ehemann verheiratet war. Eheähnlich zusammenlebende heterosexuelle Paare können aber weder aus dem Auffangtatbestand des § 7 Abs. 1 S. 3 AufenthG noch aus dem europäischen Recht ein Aufenthaltsrecht zur Familienzusammenführung ableiten, weil der Familiennachzug in § 3 FreizügG/EU und den §§ 27 ff. AufenthG abschließend geregelt ist (so: BSG, Urteil vom 30. Januar 2013, a.a.O., Rn. 33 m.w.N.). Soweit sich die Antragstellerin in der Vergangenheit darauf berufen hat, ihr Aufenthalt diene vor allem der Personensorge gegenüber ihrem am ... 2009 geborenen Sohn, vermag dem der Senat nicht zu folgen, denn die Antragstellerin hat zu keinem Zeitpunkt die Personensorge über ihren Sohn ausgeübt, der offenbar schon kurz nach seiner Geburt in die Obhut einer Pflegefamilie gegeben und inzwischen auch adoptiert wurde. Es bestanden daher keinerlei objektive Anhaltspunkte dafür, dass die Antragstellerin ggf. zusammen mit ihrem späteren Ehemann in Zukunft entgegen ihrem bisherigen Verhalten die elterliche Verantwortung übernehmen würde, noch waren hierfür irgendwelche tatsächlichen Bestrebungen erkennbar (siehe hierzu: BSG, a.a.O., Rn. 35).

Einer Beiladung des Sozialhilfeträgers nach § 75 Abs. 2, 2. Alt. SGG bedurfte es nicht.

Ein Anspruch auf laufende Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII kommt vorliegend schon von vorne herein nicht in Betracht. Die Antragstellerin ist erwerbsfähig und somit dem Grunde nach Leistungsberechtigte nach dem SGB II. Als Erwerbsfähige ist sie nach § 21 Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII) von Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII ausgeschlossen (so zutreffend: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013, L 15 AS 365/13 B ER, [...] Rn. 65 ff. m.w.N.; a.A. Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 23. Mai 2014, L 8 SO 129/14 B ER, [...], Rdnr. 14 ff. m.w.N. auch zur Gegenmeinung). Zwar mag grundsätzlich ein Anspruch auf vorläufige Gewährung von Hilfen in sonstigen Lebenslagen nach § 73 SGB XII (Überbrückungsleistungen) gegen den Sozialhilfeträger in Betracht kommen, der nicht nach § 21 S. 1 SGB XII ausgeschlossen ist und für den deshalb die Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers begründet ist (a.A.: 4. Senat des Hessischen Landessozialgerichts, Beschluss vom 22. Mai 2015, B 4 SO 31/15 B ER in [...]), weil das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG dem Grunde nach unverfügbar ist und durch einen Leistungsanspruch eingelöst werden muss. Die vorliegend im Streit stehende Verpflichtung des Antragsgegners zur vorläufigen Gewährung von laufenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II) unterscheidet sich jedoch nach Struktur und Inhalt grundlegend von dem alternativ allein nach dem SGB XII in Betracht kommenden, situationsbezogenen Anspruch auf Hilfe in sonstigen Lebenslagen, der daher beim zuständigen Sozialhilfeträger gesondert geltend zu machen ist (so zutreffend u.a.: Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 15. November 2013, L 15 AS 365/13 B ER, [...], Rn. 68 m.w.N.). [...]