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AG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
AG Frankfurt a.M., Urteil vom 09.06.2015 - 975 Cs 858 Js 53066/14 - asyl.net: M23393
https://www.asyl.net/rsdb/M23393
Leitsatz:

Die Durchquerung mehrerer sicherer Drittstaaten hindert die Anwendung des Art. 31 GFK nicht, solange nirgendwo ein gesicherter Aufenthalt erreicht wurde und eine durchgehende Fluchtbewegung vorlag.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Genfer Flüchtlingskonvention, unerlaubte Einreise, sichere Drittstaaten, Strafausschließungsgrund,
Normen: GFK Art. 31,
Auszüge:

[...]

Gemäß Artikel 31 Abs. 1 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) dürfen vertragsschließenden Staaten, zu denen die Bundesrepublik Deutschland zu zählen ist, wegen unrechtmäßiger Einreise und unrechtmäßigem Aufenthalt keine Strafen gegen Flüchtlinge verhängen, die unmittelbar aus einem Gebiet kommen, in dem ihr Leben oder ihre Freiheit bedroht sind und die ohne Erlaubnis in das Gebiet der vertragsschließenden Staaten einreisen oder sich dort aufhalten. Für die Anwendung des Artikels 31 GFK ist erforderlich, dass sich die Personen unverzüglich nach der Einreise bei den Behörden melden und Gründe darlegen, die ihre unrechtmäßige Einreise oder ihren unrechtmäßigen Aufenthalt rechtfertigen können. Artikel 31 GFK ist entscheidend dafür, dass Flüchtlinge überhaupt eine Zugangsmöglichkeit zu Staaten mit effektivem Schutzsystem erhalten können.

Die Flüchtlingseigenschaft des Angeklagten ergibt sich zunächst aus der von ihm geschilderten Verfolgung in seiner Heimat Sudan. Die Region Darfur ist bekanntermaßen ein Krisengebiet. Der Angeklagte gehört zu einer Minderheit die eine dunklere Hautfarbe als die Bevölkerungsgruppe hat, die den Präsidenten stellt. Der Präsident Al-Baschir bedient sich der Milizeinheit der Gjangaweed, um die ihm unliebsame Bevölkerungsgruppe in der Region Darfur regelrecht auszulöschen. Der Angeklagte musste unter Repressionen leiden. Sie wurden in Lager gesperrt, bekamen kein Essen, ihnen wurde keine Bildung zu teil und sie mussten stets mit der Verfolgung und dem Tod rechnen. Des Weiteren erlebte er persönliche Bedrohung, die er aufgrund seiner Herkunft in Libyen erfahren hat. Gemäß Artikel 31 GFK ist eine schutzsuchende Person solange vorläufig als Flüchtling anzuerkennen und rechtlich als Flüchtling zu behandeln, bis die jeweilige Rechtsstellung als Flüchtling endgültig abgelehnt wird. Damit ist vorliegend von der Flüchtlingseigenschaft des Angeklagten auszugehen.

Der Schutzbereich des Artikels 31 GFK liegt im Betreten des Territoriums, um Schutz zu suchen. Das der Angeklagte über Italien und Frankreich in das Bundesgebiet ein gereist ist, schließt die Anwendbarkeit des Artikels 31 Abs. 1 GFK nicht aus. Denn das Unmittelbarkeitskriterium in Artikel 31 Abs. 1 GFK darf nicht parallel zu Artikel 16a Abs. 1 Grundgesetz dahingehend ausgelegt werden, dass ein Flüchtling sich nicht auf das Asylgrundrecht berufen darf, sofern er durch einen sicheren Drittstaat eingereist ist. Eine solche Auslegung ist bereit aus dogmatischen Gründen zurückzuweisen, denn Artikel 31 GFK ist eine Norm aus einem völkerrechtlichen Vertrag, dessen Anwendungsbereich keinesfalls dem Inhalt eines Grundrechts aus deutschen Verfassungsrecht folgt. Der Anwendungsbereich des Artikels 31 Abs. 1 GFK findet lediglich dann keine Anwendung, wenn ein Flüchtling bereits eine hinreichend sichere Position vor der ihm drohenden Verfolgung erlangt hat. Dabei soll einem Flüchtling lediglich nicht das Recht zustehen, aus persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen noch in einen Staat weiterzureisen, nachdem er sich temporär in einem Aufenthaltsstaat niedergelassen hat. Damit soll ein uferloses Recht auf unbeschränkte Immigration verhindert werden. Allerdings ist dabei anerkannt, dass eine Flucht in mehreren Etappen mit einigen Tagen Aufenthalt in mehreren Transitstaaten erfolgen kann, wobei es nicht darauf ankommt, dass der Flüchtling abstrakt die Möglichkeit hatte, in einem Transitstaat Asyl zu beantragen, da das Unmittelbarkeitskriterium dem Flüchtling nicht die Möglichkeit rauben soll, als Zielland ein Staat zu erwählen, von dem er sich eine positive Bescheidung seines Antrags erhofft. Wann eine solche temporäre Niederlassung vorliegt, ist nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen.

Vorliegend ist der Angeklagte auf seiner Flucht aus dem Sudan über Libyen auf dem Seeweg nach Italien gelangt. Auf diesem Weg geriet er in Seenot, woraufhin er gerettet und direkt nach Italien verbracht wurde. Der Angeklagte wurde sodann von den italienischen Behörden aufs Festland weiter verbracht und ihm dort mitgeteilt, dass er sich weiter auf den Weg machen sollte. Dem kam der Angeklagte auch nach und machte sich zu Fuß auf den Weg zur französischen Grenze. Dafür brauchte er 3 Wochen, was durchaus nachvollziehbar und lebensnah erscheint. Von der französischen Grenze wiederum begab er sich nach Paris und von dort unmittelbar mit dem Zug nach Frankfurt am Main und damit in deutsches Bundesgebiet. Der Aufenthalt in Italien hatte damit durchaus einen rein temporären Charakter. Durch die ständige Bewegung des Angeklagten befand er sich auf einer durchgehenden Flucht. Der Aufenthalt in Italien und Frankreich diente damit zweifellos nur der Durchreise. Das Durchqueren dieser Transitstaaten weist vorliegend keinen Charakter eines zeitweiligen Niederlassens auf, da eine ununterbrochene Fluchtbewegung vorliegt. Dies wird auch dadurch unterstützt, dass die EURODAC-Anfrage bezüglich des Angeklagten negativ verlief. Was bedeutet, dass er in keinem dieser Staaten einen Asylantrag förmlich gestellt hat. Der Angeklagte hat damit bis zu seiner Ankunft am Frankfurter Hauptbahnhof nie einen sicheren Aufenthalt erreicht. Folglich liegt keine temporäre Niederlassung, sondern lediglich ein passieren von Transitstaaten vor. Es ist offensichtlich, dass der Angeklagte sich als Zielland für sein Asylbegehren ein Land auswählte, indem er sicher war, Schutz zu erhalten. Dies war vorliegend die Bundesrepublik Deutschland. Dieses Recht steht dem Angeklagten als Flüchtling zu. Der Angeklagte hat sich auch unmittelbar nach seiner Ankunft in Frankfurt am Main zur Bundespolizei begeben und dort ein Schutzersuchen geäußert. Dieses nahm die Polizeibehörde jedoch nicht auf und verwies den Angeklagten auf den nächsten Tag. In den frühen Morgenstunden wurde der Angeklagte jedoch von einer Streife aufgegriffen, bevor er erneut sein Asylbegehren gegenüber Behörden äußern konnte. Bei seiner Festnahme erklärte der Angeklagte jedoch sofort und unmissverständlich um Schutz in Deutschland zu ersuchen.

Die unmittelbare Anwendung des Artikels 31 Abs. 1 GFK ergibt daraus, dass völkerrechtliche Verträge, wie die GFK, dem die Bundesrepublik Deutschland durch Zustimmungsgesetz beigetreten ist, innerhalb der deutschen Rechtsordnung nach Artikel 59 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz im Range eines Bundesgesetzes stehen. Zudem gilt im Anwendungsbereich des Unionsvertrages das Pönalisierungsverbot des Artikels 31 Abs. 1 GFK als supranationales Europarecht mit Anwendungsvorrang vor dem Deutschen Recht. Dies ist gemäß Artikel 78 AEUV in das Unionsrecht einbezogen.

Damit ist zu Gunsten des Angeklagten der persönliche Strafausschließungsgrund des Artikels 31 Abs. 1 GFK anzunehmen. Er war freizusprechen. [...]