VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 12.05.2015 - 3 B 930/15 - asyl.net: M23394
https://www.asyl.net/rsdb/M23394
Leitsatz:

Bei der Ausübung des in § 15 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG, Art. 5 Abs. 4 c SGK eingeräumten Ermessens ist die Elternschaft des Ausländers zu einem deutschen Kind zu berücksichtigen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: deutsches Kind, Zurückweisung, Schengener Grenzkodex, Sicherung des Lebensunterhalts, Einreiseverweigerung, Drittstaatsangehörige, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, Kindeswohl, Achtung des Familienlebens, Achtung des Privatlebens,
Normen: AufenthG § 15 Abs. 2 Nr. 3, SGK Art. 5 Abs. 4 c, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

Die von der Antragsgegnerin auf § 15 Abs. 2 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz - AufenthG - gestützte Zurückweisung begegnet nach summarischer Überprüfung rechtlichen Bedenken. Nach dieser Norm kann ein Ausländer an der Grenze zurückgewiesen werden, wenn er die Voraussetzungen für die Einreise in das Hoheitsgebiet der Vertragsparteien nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex - SGK - nicht erfüllt.

Zwar spricht Überwiegendes dafür, dass die Einschätzung der Antragsgegnerin zutrifft, der Antragsteller erfülle nicht die Voraussetzungen des Art. 5 Abs. 1c SGK. Hiernach muss ein Drittstaatsangehöriger für einen geplanten Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten von bis zu 90 Tagen im Zeitraum von 180 Tagen u.a. über ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts sowie für die Dauer des beabsichtigten Aufenthalts als auch für die Rückreise in den Herkunftsstaat oder für die Durchreise in einen Drittstaat, in dem seine Zulassung gewährleistet ist, verfügen oder in der Lage sein, diese Mittel rechtmäßig zu erwerben. Der Antragsteller hatte bei der Einreise nur einen Barbetrag von 215,00 € mitgeführt. Das auf den Namen seines deutschen Kindes angelegte Sparvermögen von knapp 2.000,00 € dürfte die Voraussetzungen, die an die Feststellung ausreichender Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes durch den SGK gestellt werden, nicht erfüllen. Das Sparbuch befindet sich nicht im Besitz des Antragstellers und er ist auch nicht berechtigt, darauf zuzugreifen. Allein die eidesstattliche Versicherung der Mutter des Kindes, sie werde für Kost und Logis aufkommen, erfüllt den Tatbestand des Art. 5 Abs. 1c SGK nicht (vgl. Art. 5 Abs. 3 SGK).

Die angefochtene Entscheidung stellt sich aber als ermessensfehlerhaft dar. Die Antragsgegnerin hat unbeachtet gelassen, dass bei Ausübung des ihr in § 15 Abs. 2 Nr. 3, Art. 5 Abs. 4c SGK eingeräumten Ermessens die Elternschaft des Antragstellers zu einem deutschen Kind zu berücksichtigen war.

Zwar wird in der Kommentarliteratur zu § 15 AufenthG vertreten, die Zurückweisung sei auch in den Fällen nach § 15 Abs. 2 Nr. 3 AufenthG entgegen dem Gesetzeswortlaut aus systematischen Gründen zwingend (vgl. z. B. Renner/Bergmann/Dienelt, AuslR, Kommentar, 10. Aufl., § 15 Rdnr. 29; Beck'scher Online-Kommentar AuslR, Stand: 01.09.2014, § 14, Rdnr. 17). Denn § 15 Abs. 2 AufenthG werde durch den gemeinschaftsrechtlich bedingten Anwendungsvorrang des SGK als lex specialis überlagert. Diese Ansicht dürfte allerdings im Hinblick auf Art. 13 Abs. 1 Satz 1 SGK nicht zutreffend sein. Nach dieser Norm wird einem Drittstaatsangehörigen, der nicht alle Einreisevoraussetzungen des Art. 5 Abs. 1 erfüllt und der nicht zu dem in Art. 5 Abs. 4 genannten Personenkreis gehört, die Einreise verweigert. Damit ist auch europarechtlich geregelt, dass im Falle des Art. 5 Abs. 4 SGK die Einreiseverweigerung nicht als gebundene Entscheidung ergeht, sondern im Ermessen der nationalen Behörden steht.

Nach Art. 5 Abs. 4c SGK gilt abweichend von Abs. 1 der Norm, dass ein Mitgliedsstaat einem Drittstaats - angehörigen, der eine oder mehrere Voraussetzungen des Abs. 1 nicht erfüllt, die Einreise in sein Hoheitsgebiet aus humanitären Gründen oder Gründen des nationalen Interesses oder aufgrund internationaler Verpflichtung gestatten kann.

So liegt der Fall hier:

Für den Antragsteller streiten die Regelungen des Art. 8 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - und Art. 6 GG. Nach Art. 8 EMRK hat jede Person u. a. das Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Nach Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz - GG - stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung.

Zwar garantiert Art. 8 EMRK weder ein Recht auf Einreise und Aufenthalt, noch vermittelt er ein Recht auf einen besonderen Aufenthaltstitel oder ein Recht, den Ort zu wählen, der am besten geeignet ist, ein Familienleben aufzubauen bzw. zu führen (Meyer-Ladewig, EMRK, Handkommentar, 3. Aufl., 2011, Art. 8 Rdnr. 64 und 68). Auch Art. 6 Abs. 1 GG gewährt keinen unmittelbaren Einreise- oder Aufenthaltsanspruch. Beide Normen verpflichten staatliche Stellen jedoch, bei der Entscheidung über ein Aufenthalts- oder Einreisebegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, umfassend zu berücksichtigen.

Die Pflicht des Staats zum Schutz der Familie drängt einwanderungspolitische Belange dann zurück, wenn die gelebte Familiengemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa weil besondere Umstände demjenigen Mitglied der Gemeinschaft, zu dem der Ausländer eine außergewöhnlich enge Beziehung hat, ein Verlassen des Bundesgebiets unzumutbar machen. Handelt es sich bei dem Mitglied der Familiengemeinschaft um ein Kind, so ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen. (BVerfG, Beschlüsse vom 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84 - BVerfGE 80, 81, vom 12.05.1987 - 2 BvR 1226/83 u.a. -, [...], vom 05.06.2013 - 2 BvR 586/13 - [...], BVerwG, Urteil vom 30.07.2013 - 1 C 15.12 - [...]).

Der Sohn des Antragstellers ist deutscher Staatsangehöriger und kann damit grundsätzlich nicht darauf verwiesen werden, sich zur Führung einer familiären Lebensgemeinschaft mit dem Antragsteller nach Brasilien zu begeben. Der Antragsteller hat sich nach dem unwidersprochenen Vortrag nach der Geburt des Kindes für ca. fünf Monate gemeinsam mit dem Kind im Bundesgebiet aufgehalten und so bereits eine familiäre Verbundenheit zu seinem deutschen Kind begründet. Dies kann zwar das Kind aufgrund seines geringen Alters (es wurde 6. Mai 2015 ein Jahr) noch nicht reflektieren. Aber gerade angesichts des geringen Alters ist dem Kind die Möglichkeit des Aufbaus einer familiären Beziehung zu seinem Vater zu geben. In diesem Zusammenhang ist davon auszugehen, dass der persönliche Kontakt des Kindes zu seinen Eltern und der damit verbundene Aufbau und die Kontinuität emotionaler Bindungen zu Vater und Mutter in der Regel der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes dienen (vgl. insofern BVerfG, Urteil vom 24.03.1981 - 1 BvR 1516/78 u.a., [...]). Ein hohes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 01.12.2008, - 2 BvR 1830/08 -, [...]). Dem überragenden Wert einer gelebten Eltern-Kind-Beziehung und den europa- und verfassungsrechtlichen Vorgaben trägt im Übrigen auch das nationale Aufenthaltsrecht Rechnung. So sieht § 28 Abs. 1 Satz 2 AufenthG beispielsweise für den Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen von dem Erfordernis eines gesicherten Lebensunterhaltes ab.

Angesichts des vom Gesetzgeber eingeräumten hohen Wertes des betroffenen Schutzgutes hätte die Antragsgegnerin entsprechende Erwägungen in ihrer Zurückweisungsentscheidung anstellen müssen. Dafür ist nichts ersichtlich, zumal das bei der Einreiseverweigerung vom 6. Mai 2015 herangezogene Formblatt keinen Raum für Ermessenerwägungen vorsieht. Die Antragsgegnerin hat das ausgefallene Ermessen auch nicht etwa während des gerichtlichen Verfahrens nachgeholt. Spätestens mit Eingang der Antragsschrift des Antragstellers vom 7. Mai 2015 war die Antragsgegnerin von der deutschen Staatsangehörigkeit des Kindes in Kenntnis gesetzt. Sie hat dann in ihrem Schriftsatz vom 8. Mai 2015 an das Verwaltungsgericht (S. 6 Mitte) ausgeführt, der Antragsteller sei "nach Ausübung des pflichtgemäßen Ermessens und unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gemäß § 15 (2) Nr. 3 AufenthG i.V.m. Art. 13 Abs. 1 SGK durch die Bundespolizei zurückgewiesen (worden). Zurückweisungshindernisse gemäß § 15 (4) AufenthG waren nicht erkennbar und wurden auch nicht vorgebracht". Diese Ausführungen dokumentieren, dass die Bedeutung der Vaterschaft zu einem deutschen minderjährigen Kind im Rahmen der anzustellenden Ermessenserwägungen nicht erkannt und berücksichtigt wurde. [...]