VG Wiesbaden

Merkliste
Zitieren als:
VG Wiesbaden, Urteil vom 27.04.2015 - 5 K 1532/14.WI.A - asyl.net: M23395
https://www.asyl.net/rsdb/M23395
Leitsatz:

Ein Vorstandsmitglied der oppositionellen TBOJ/UOSG ist aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten gefährdet, wenn er nach Äthiopien zurückkehrt. Aufgrund der Funktion hebt er sich vom Kreis der bloßen Mitläufer ab.

Schlagwörter: Äthiopien, OLF, Oromo, UOSG, Exilpolitik, TBO/UOSG,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Hiervon ausgehend kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger – wie von ihm vorgetragen – bereits vor seiner Ausreise in Äthiopien politisch verfolgt wurde. Denn auf Grund seiner exilpolitischen Tätigkeit droht ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung bei einer Rückkehr nach Äthiopien. Der Kläger hat sich im Bundesgebiet der oppositionellen TBOJ/UOSG angeschlossen. Er wurde dort inzwischen in den Vorstand gewählt und bekleidet das Amt eines .... Er ist zudem ... der Vereinigung. Auf Grund dieser Funktionen hebt er sich aus dem Kreis der bloßen Mitläufer hervor. Der Kläger hat seine Tätigkeiten auch durch die Vorlage von Mitgliedsbescheinigungen belegt. Diese Bescheinigungen sind auch auf den Namen "A" ausgestellt, so dass die von der Beklagten in Frage gestellte Identität, unter der der Kläger seine exilpolitische Tätigkeit ausübt, geklärt sein dürfte.

Bei der UOSG handelt es sich um eine der OLF eng verbundene Organisation. Sie vertritt eine strikt oppositionelle Haltung gegenüber der äthiopischen Regierung (vgl. ai, Auskunft vom 09.04.2008 an VG Köln; GIGA Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 24.04.2008 an VG Köln).

Angehörige der OLF und deren Exilorganisation werden von der EPRDF-Regierung nach wie vor des Terrorismus verdächtigt (vgl. AA, Lagebericht vom 04.03.2015). Es kam und kommt immer wieder zu massiven Übergriffen der Sicherheitskräfte gegenüber Mitgliedern und Unterstützern der OLF. Die Oromos stellen fast 40 % der Bevölkerung Äthiopiens und fordern seit langer Zeit Selbstbestimmung. Der nervöse und besonders harte Umgang des Regimes mit der Oromo-Opposition erklärt sich daraus, dass es in Oromia immer wieder zu massiven Protesten gegen die Zentralregierung kommt und dass OLF-Rebellen von Eritrea finanziert, ausgebildet und bewaffnet werden (vgl. FAZ vom 08.02.2006: "Noch ist die Angst größer als die Courage"; FAZ vom 02.02.2006: Äthiopien; ai, Auskunft vom 22.11.2005 an VG Wiesbaden; Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 02.11.2005 an VG Wiesbaden, GIGA Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 24.04.2008 an VG Köln; Schweizer Bundesamt für Migration vom 07.01.2010: Focus Äthiopien, Illegale Opposition). Angesichts der hohen Bedeutung der Oromo-Frage nicht nur für das politische Überleben der jetzigen Regierung, sondern des Staates insgesamt, ist davon auszugehen, dass in den Augen der äthiopischen Sicherheitsbehörden jedwede exilpolitische Form der Unterstützung der OLF und ihrer Ziele "verfolgungswürdig" ist. Oromos, die sich im Ausland aufhalten, sind dem Generalverdacht ausgesetzt, den oromischen Befreiungskampf zu unterstützen. Kommt eine exilpolitische Aktivität für eine Oromo-Organisation im Ausland hinzu, verdichtet sich die Gefahr, bei einer Rückkehr Opfer von Inhaftierung und Verschwindenlassen zu werden, faktisch zur Gewissheit (so Günter Schröder, Auskunft vom 20.04.2005 an VG Wiesbaden; vgl. dazu auch ai, Auskunft vom 06.08.1997 an VG München und vom 09.04.2008 an VG Köln; Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 16.11.1998 an VG Berlin; Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 17.12.1998 an VG Bremen; AA, Auskunft vom 26.09.2001 an VG Ansbach; Institut für Afrika-Kunde, Auskunft vom 18.02.2002 an VG Darmstadt und vom 02.11.2005 an VG Wiesbaden).

Es kann auch mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die Aktivitäten des Klägers in der UOSG den äthiopischen Behörden bekannt geworden sind. Die äthiopische Regierung war und ist stets bemüht, die Aktivitäten der legalen und der illegalen Opposition im Ausland zu erfassen. Da die äthiopische Exilgemeinde in Deutschland relativ überschaubar ist, ist es auch wahrscheinlich, dass weniger exponierte Tätigkeiten den äthiopischen Behörden bekannt werden, da diese mit Sicherheit bemüht sind, Veranstaltungen der UOSG durch informelle Geheimdienstmitarbeiter zu überwachen (vgl. GIGA, Auskunft vom 24.04.2008 an VG Köln; ai, Auskunft vom 09.04.2008 an VG Köln). Die Beobachtung exilpolitischen Verhaltens äthiopischer Staatsangehöriger ist ohnehin ein erklärtes Anliegen des äthiopischen Staates (vgl. die äthiopische "Richtlinie zum Aufbau einer Wählerschaft" für das Haushaltsjahr 1998, gerichtet an die Botschaften, Generalkonsulate und ständigen Vertretungen der Demokratischen Bundesrepublik Äthiopien im Ausland); bei radikalen oder als terroristisch eingestuften Oppositionsgruppen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Namen der Mitglieder nach Möglichkeit erfasst und den Behörden in Äthiopien mitgeteilt werden (so GIGA, Auskunft vom 24.04.2008 an VG Köln).

Wegen des hohen Maßes an Willkür, das die äthiopischen Behörden walten lassen, müssen Unterstützer, Mitglieder und Repräsentanten der OLF und ihrer Exilorganisationen mit Sicherheit damit rechnen, als Oppositionsangehörige erkannt und mit willkürlichen Verhaftungen ohne ordentliches Verfahren sowie Folter oder Misshandlungen überzogen zu werden (vgl. ai, Auskunft vom 09.04.2008 an VG Köln; GIGA, Auskunft vom 24.04.2008 an VG Köln). Auch das Auswärtige Amt (vgl. Lageberichte vom 06.11.2007, 25.03.2009) konstatiert eine übermäßige und unverhältnismäßige Gewaltanwendung durch die Sicherheitskräfte, Verhaftungen ohne gerichtliche Anordnung und mehrjährige Inhaftierung ohne Anklageerhebung sowie eine stetige Verhärtung des innenpolitischen Klimas. Bereits der Verdacht der Mitgliedschaft oder der Unterstützung der OLF könne zu strafrechtlicher Verfolgung führen, es komme auch zu vorbeugenden Festnahmen von Sympathisanten der OLF. Landesweit seien mehrere hundert Mitglieder der Opposition – zum Teil ohne Prozess – inhaftiert.

Vor diesem Hintergrund kann dem Kläger eine Rückkehr nach Äthiopien nicht zugemutet werden. Denn zusätzlich zu seiner Funktion als Vorstandsmitglied in der oppositionellen TBOJ/UOSG kommt bei dem Kläger noch erschwerend hinzu, dass er bereits auf Grund seiner sportlichen Erfolge als ... über einen relativ hohen Bekanntheitsgrad verfügt. Über ihn wurde mehrfach in der Presse berichtet. Die Artikel, welche zum Teil auch mit Lichtbildern des Klägers versehen wurden, sind über das Internet zugänglich, so dass davon ausgegangen werden muss, dass der Kläger im Fokus der äthiopischen Behörden steht. Dies gilt unabhängig von der Frage, unter welchem Namen und mit welchem Geburtsdatum der Kläger in Äthiopien gelebt haben mag. [...]