OLG München

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Zitieren als:
OLG München, Beschluss vom 04.12.2015 - 4 OLG 13 Ss 478/15 (= ASYLMAGAZIN 1-2/2016, S. 60) - asyl.net: M23406
https://www.asyl.net/rsdb/M23406
Leitsatz:

Die Verurteilung wegen eines bereits zuvor abgeurteilten Unterlassens, hier der Beantragung eines Passes, ist am Schuldprinzip zu messen. Die erneute Bestrafung darf nicht allein den fortdauernden Ungehorsam gegenüber Strafnormen sanktionieren, sondern setzt einen neuen Tatentschluss voraus, der sich vom vorangegangenen quantitativ unterscheidet.

Schlagwörter: unerlaubter Aufenthalt, Passbeschaffung, Passlosigkeit, Strafbarkeit, Unterlassungsdelikt,
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 95, AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

Der Angeklagte ist ausweislich der Urteilsfeststellungen am 16.11.2001 in das Bundesgebiet eingereist, hat seitdem keinen Pass und weigert sich, an der Beschaffung eines Passes mitzuwirken, insbesondere einen solchen zu beantragen, weil er seine Abschiebung befürchtet.

Er wurde bereits zweimal durch das Amtsgericht Dachau wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass verurteilt, nämlich mit Urteil vom 30. August 2010, rechtskräftig seit 8. Februar 2011, bezüglich der Zeit vom 11. Juli 2008 bis 19. Januar 2010 und erneut mit Urteil vom 29. August 2012, rechtskräftig am 22. Februar 2013, bezüglich der Zeit bis 8. März 2011.

Die erneute Verurteilung wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass in der Zeit vom 30. August 2012 bis 12. Februar 2014 setzt einen zu Beginn dieses Zeitraums liegenden erneuten Tatentschluss voraus. Dieser kann weder aus einer "Zäsur" durch die letzte vorangegangene Verurteilung geschlossen werden noch ergibt er sich aus dem - zudem zeitlich später liegenden - Erhalt einer Duldung.

Der Aufenthalt ohne Pass nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG ist zumindest in der vorliegenden Fallkonstellation ein echtes Unterlassungsdauerdelikt (Hohoff in BeckOK Ausländerrecht Stand 1.5.2015 § 95 AufenthG Rn. 4; Winkelmann in Renner/Bergmann/Dienelt Ausländerrecht 10. Aufl. § 95 AufenthG Rn. 31). Daran ändert es nichts, dass der Angeklagte den rechtswidrigen Zustand statt durch Beschaffung eines Passes auch durch Ausreise beenden könnte, zumal auch unerlaubter Aufenthalt nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ein echtes Unterlassungsdauerdelikt ist (Hohoff aaO. Rn. 12).

In solchen Fällen ist die Rechtmäßigkeit einer erneuten Verurteilung wegen eines bereits zuvor abgeurteilten Unterlassens, vorliegend der Beantragung eines Passes, am Schuldprinzip zu messen (BVerfG Beschl. v. 27.12.2006 - 2 BvR 1895/05). Eine neue Verurteilung nach einer angenommenen Zäsur erfordert einen neuen Tatentschluss, der sich vom vorangegangenen qualitativ unterscheidet, weil er die vorangegangene Verurteilung außer Acht lässt. Der neue Tatentschluss kann nicht allein aus einer Zäsurwirkung vorangegangener Verurteilungen geschlossen werden, sondern es müssen dafür Anhaltspunkte aus äußeren Handlungen des Angeklagten vorliegen. Diese Rechtsprechung des BVerfG ist auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar, denn im Hinblick auf die dort aufgezeigten Kriterien macht es keinen Unterschied, ob ein echtes oder ein unechtes Unterlassungsdelikt in Frage steht. In beiden Fällen darf die erneute Bestrafung nicht allein den fortdauernden Ungehorsam gegenüber Strafnormen sanktionieren (vgl. schon BVerfG aaO. Tz. 33; dem für ein echtes Unterlassungsdelikt folgend OLG München, Beschluss vom 14. 6. 2012 - 3 Ws 493/12). Das angefochtene Urteil stellt zum äußeren Verhalten des Angeklagten für den abgeurteilten Tatzeitraum lediglich fest, er sei aus zahlreichen Schreiben der Ausländerbehörden, zuletzt vom 11. März 2011, über seine Pflicht, einen Pass zu beschaffen, informiert gewesen und ihm sei am 29. Januar 2013 auf seinen Antrag hin eine Duldung erteilt worden, in der vermerkt sei, dass diese kein Ausweisersatz sei und damit der Passpflicht nicht genügt werde. Dies genügt als äußeres Indiz für einen im nunmehr maßgeblichen Tatzeitraum liegenden neuen Tatentschluss nicht, zumal aus der Duldung als solcher keine über die bisherige hinausgehende Pflicht zur Beantragung eines Passes erwächst.

Das Urteil beruht mithin insgesamt auf einem Rechtsfehler und ist aufzuheben, § 353 Abs. 1 StPO.

Da ergänzende Feststellungen zum Tatgeschehen möglich erscheinen, kann das Revisionsgericht nicht nach § 354 Abs. 1 StPO selbst entscheiden, sondern hat die Sache zurückzuverweisen,§ 354 Abs. 2 Satz 1 StPO. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:

Sofern sich in der erneuten Berufungshauptverhandlung aus äußeren Handlungen des Angeklagten hinreichende Indizien für einen neuen Tatentschluss des Angeklagten ergeben, hängt die Strafbarkeit nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG davon ab, ob der Angeklagte, wenn er einen entsprechenden Antrag stellt, Aussicht hat, in zumutbarer Weise einen Pass zu erlangen (Hohoff in BeckOK Ausländerrecht Stand 1.5.2015 § 95 AufenthG Rn. 5; Senge in Erbs/Kohlhaas, Strafrechtliche Nebengesetze 204. EL September 2015 § 95 AufenthG Rn. 4). Eine Unzumutbarkeit ergibt sich dabei nicht etwa aus seiner Befürchtung, durch Erlangung eines Passes seine Abschiebung zu ermöglichen (BayObLGSt 2004, 96). Grundsätzlich kann auch ansonsten nicht angenommen werden, die Beschaffung eines Passes sei unzumutbar, wenn der Angeklagte gar nicht erst einen entsprechenden Antrag stellt (BayObLGSt 2004, 96, 104; KG v. 14.6.2013 - (2) 121 Ss 65/13(15/13). Gegenteiliges könnte nur gelten, wenn von vorneherein feststünde, dass der Ausstellerstaat an die Passerlangung unzumutbare Bedingungen knüpft. [...]