AG Hamburg-St. Georg

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Zitieren als:
AG Hamburg-St. Georg, Urteil vom 16.11.2015 - 941 Cs 114/15 - asyl.net: M23410
https://www.asyl.net/rsdb/M23410
Leitsatz:

Die Strafnorm des § 95 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG ist verfassungskonform insoweit einschränkend auszulegen, als sie Verstöße gegen die Pflicht aus § 49 Abs. 2 AufenthG jedenfalls dann nicht erfasst, wenn sich der Ausländer der Strafverfolgung ausgesetzt hätte.

Schlagwörter: mittelbare Falschbeurkundung, unrichtige Angaben, falsche Angaben, Duldung, verfassungskonforme Auslegung, Selbstbelastungsfreiheit, Ausländerstrafrecht, Selbstbelastung,
Normen: AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[…]

Von diesem Vorwurf war die Angeklagte aus rechtlichen Gründen freizusprechen. Der Angeklagten war im Lichte des Grundsatzes der Selbstbelastungsfreiheit nicht zuzumuten, im Rahmen der jeweiligen verfahrensgegenständllchen Vorsprachen bei der Ausländerbehörde zutreffende Angaben zu ihrer Personalie zu machen und sich dadurch selbst der Strafverfolgung wegen jeweils früher, in nicht rechtsverjährter Zeit zuvor, unzutreffend gemachter Angaben auszusetzen.

Das Verbots des Zwangs zur Selbstbelastung, nomo tenetur se ipsum accusare, ist notwendiger Ausdruck einer auf den Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung. Zu diesem verfassungsrechtlich geschützten Grundsatz gehört, dass niemand gezwungen werden darf, sich durch seine eigene Aussage einer Straftat zu bezichtigen oder zu seiner Überführung aktiv beizutragen. Genau das hätte die Angeklagte indes tun müssen. Denn sie hatte, wie sich aus dem ihm Rahmen der Hauptverhandlung verlesenen Auszug aus dem Ausländerzentralregister ergibt, bereits in nicht rechtsverjährter Zeit vor Begehung der im Strafbefehl angeklagten ersten Tat vom 18. Mai 2010 bei der Ausländerbehörde unzutreffende Angaben zu ihrer Personalie gemacht und dadurch jeweils eine Duldung erwirkt. Sie hätte sich also unweigerlich mit Nennung ihrer richtigen Daten eines früheren Gesetzesverstoßes bezichtigen müssen.

Die Strafnorm des § 95 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG ist jedoch verfassungskonform insoweit einschränkend auszulegen, als sie Verstöße gegen die Pflicht aus § 49 Abs. 2 AufenthG jedenfalls dann nicht erfasst, wenn sich der Ausländer, wie hier die Angeklagte, der Strafverfolgung ausgesetzt hätte (vergleiche insoweit zutreffend das Urteil des Landgerichts Berlin vom 17. Februar 2015 – Aktenzeichen (572) 252 Js 3536/13 (139/14) 246b Ds 206/13).

Die Angeklagte war daher aus rechtlichen Gründen freizusprechen. [...]