Besteht keine Möglichkeit der engmaschigen Betreuung durch Familienangehörige zur Sicherstellung der erforderlichen medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung in Afghanistan, ist ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen.
[...]
Ausgehend hiervon ist der Senat davon überzeugt, dass dem Kläger im Fall einer Rückkehr in die Islamische Republik Afghanistan alsbald mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität droht:
Aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen ergibt sich, dass der Kläger an einer erheblichen psychischen Erkrankung mit zum Teil schweren Ausfallerscheinungen leidet, die sich in eigen- und fremdaggressiven Handlungen bis hin zur Suizidalität äußern. [...] Zwar enthalten die genannten ärztlichen Stellungnahmen zum Teil verschiedene Diagnosen. Sie beschreiben jedoch übereinstimmend eine erhebliche psychische Erkrankung des Klägers mit den angeführten, teilweise schweren Ausfallerscheinungen. Aufgrund der psychischen Erkrankung wurde beim Kläger ab dem 27. Februar 2015 ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt.
Die Erkrankung des Klägers ist sowohl medikamentös als auch psychotherapeutisch behandlungsbedürftig.
Nach den Bescheinigungen von Dr. med. ... vom 20. Juni 2012 und 17. Juni 2013, dem Bericht zur Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus vom 15. Februar 2013, dem Bericht des Kinderhospitals Osnabrück vom 28. Februar 2013 und dem Bericht des AMEOS-Klinikums Osnabrück vom 4. März 2013 wurde der Kläger seit dem Jahr 2012 mit den Medikamenten Citalopram, Diazepem, Opipramol, Neurocil, Pipamperon, Zyclopenthixol und Quetiapin behandelt. Derzeit wird er ausweislich der Stellungnahme des Arztes … vom 4. September 2015 mit dem Antidepressivum Citalopram und dem Neuroleptikum Quetiapin behandelt. Das Neuroleptikum ist nach Angaben des Arztes erforderlich geworden, weil der Kläger unter anderweitig nicht beherrschbaren Anspannungen und Angstzuständen litt. Mit dem Antidepressivum wird die Stimmung des Klägers stabilisiert. Der Kläger muss das Neuroleptikum den Erläuterungen seines Betreuers zufolge jeden Morgen und jeden Abend im Abstand von zwölf Stunden einnehmen. Das Antidepressivum hat er jeden Morgen einzunehmen. Beide Medikamente haben laut Stellungnahme des Arztes … vom 4. September 2015 zu einer deutlichen Verbesserung im Zustand des Klägers geführt, so dass unter dem Einfluss der Medikamente nur eine leichte depressive Symptomatik besteht.
Im Bericht des AMEOS-Klinikums Osnabrück vom 4. März 2013 wird darüber hinaus die Durchführung einer ambulanten Psychotherapie zur Behandlung der depressiven Symptomatik des Klägers im Rahmen der Anpassungsstörung und eine Behandlung der zugrunde liegenden andauernden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung empfohlen. Im Bericht des Kinderhospitals Osnabrück vom 28. März 2013 wird eine ambulante Traumatherapie für den Kläger für "unbedingt angebracht" erklärt. Dr. med. … führt in ihrem Bericht vom 17. Juni 2013 aus, dass sich der Verein Exil um eine solche kümmere. Es sei schwierig, dem Kläger klarzumachen, dass therapeutische Interventionen nicht sofort zur Verfügung stünden. In seiner Stellungnahme vom 4. September 2015 führt der behandelnde Arzt aus, die posttraumatische Belastungsstörung des Klägers sei noch gänzlich unbehandelt, eine Behandlung - die erst in einem gewissen Abstand zu den traumatisierenden Ereignissen sinnvoll sei - sei aber unbedingt erforderlich.
Der Kläger bedarf aus krankheitsimmanenten Gründen einer engmaschigen Betreuung durch eine Bezugsperson, um die Durchführung der erforderlichen medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung sicherzustellen. Im Bericht des AMEOS-Klinikums Osnabrück vom 4. März 2013 wird erläutert, dass der Kläger im weiteren Verlauf engmaschig überwacht werden müsse. Das Amtsgericht Osnabrück hat dem Kläger mit Beschluss vom 4. Oktober 2013 unter anderem für den Aufgabenbereich "Sorge für die Gesundheit" einen Betreuer bestellt. Es hat nach persönlicher Anhörung des Klägers unter Berücksichtigung des Gutachtens von Dr. med. … vom 20. Juni 2013 festgestellt, dass der Kläger aufgrund seiner Erkrankung nicht in der Lage ist, die betreffenden Angelegenheiten selbst zu besorgen. [...]
Eine Nichtbehandlung der Erkrankung des Klägers würde nach der Stellungnahme des Arztes … vom 4. September 2015 mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Rückfall des Klägers und zu nicht kontrollierbaren Situationen führen. Diese Einschätzung erfährt eine Bestätigung durch die in den Jahren 2012 und 2013 jeweils in Situationen fehlender Behandlung aufgetretenen suizidalen Krisen des Klägers mit akuten Eigen- und Fremdgefährdungen. Auch der Betreuer des Klägers, dessen Einschätzung der Senat aufgrund der mehr als 20-jährigen Erfahrung als selbstständiger Berufsbetreuer und der intensiven Beschäftigung mit dem Kläger eine besondere Bedeutung beimisst, hat in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren gut nachvollziehbar und überzeugend erläutert, dass der Kläger, wenn er die skizzierten Hilfen nicht mehr bekäme, wieder in den "alten" Zustand zurückfallen würde, in dem er ein "wandelndes Pulverfass" gewesen sei. Im unbehandelten Zustand würden bereits geringfügige Kleinigkeiten zu einer Explosion des Klägers führen. Es sei zu befürchten, dass es - wie in der Vergangenheit - zu Selbstverletzungshandlungen mit dem Messer kommen werde. Der Kläger gehe im unbehandelten Zustand auch anderen Personen "an die Gurgel". Es komme zunächst zu verbalen, dann aber auch zu tätlichen Angriffen. In den zu erwartenden, nicht kontrollierbaren eigen- und fremdgefährdenden bis hin zu suizidalen Krisen reichenden Folgen einer Nichtbehandlung der Erkrankung des Klägers ist eine wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu sehen.
Der Senat ist davon überzeugt, dass im Fall der Rückkehr des Klägers in die Islamische Republik Afghanistan eine solche wesentliche Verschlechterung seines Gesundheitszustands mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.
Dabei kann offen bleiben, inwieweit es infolge der im Jahr 2009 vom afghanischen Ministerium für öffentliche Gesundheit aufgestellten "National Mental Health Strategy 2009 - 2014" und deren zumindest teilweise erfolgten Umsetzung (vgl. Anfragebeantwortung des Medical Advisors' Office BMA vom 24.12.2012 zu Behandlungsmöglichkeiten von Depressionen (F 32) in Kabul; Bericht der Weltgesundheitsorganisation "Building Back Better - Sustainable Mental Health Care after Emergencies" von 2013, S. 27 ff.; ACCORD, "Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Nangarhar: Behandlungsmöglichkeiten für Personen mit psychischen Erkrankungen" vom 23.9.2013; ACCORD, "Anfragebeantwortung zu Afghanistan: 1) Behandelbarkeit von psychischen Störungen im Raum Kabul; 2) Lage von Personen mit psychischer Störung (Diskriminierung, etc.)" vom 3.6.2014; Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 2.3.2015, S. 23 f.; ACCORD, "Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Behandlungsmöglichkeiten für psychisch erkrankte/traumatisierte Personen in Kabul" vom 6.10.2015) in der Islamischen Republik Afghanistan inzwischen medizinische und psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeiten für die Erkrankung des Klägers gibt, und ob der Kläger eine Behandlung - gegebenenfalls mit Unterstützung durch Angehörige - finanzieren könnte.
Denn der Senat ist davon überzeugt, dass dem Kläger weder in seinem Heimatdorf … noch andernorts in der Islamischen Republik Afghanistan die in seinem Fall notwendige engmaschige Betreuung zur Sicherstellung der erforderlichen medizinischen und psychotherapeutischen Behandlung zur Verfügung steht. Der Kläger wuchs nach seinem Vorbringen infolge des frühen Todes seiner Mutter und der Ermordung seines Vaters durch die Taliban bei seiner Stiefmutter auf, die ihn misshandelte und den Taliban zwecks Ausbildung zum Selbstmordattentäter übergeben wollte, weshalb der Kläger Afghanistan verließ. Der Senat hält diese bereits im Verwaltungs- und im Klageverfahren gemachten Angaben des Klägers, die er in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren im Wesentlichen wiederholt hat, für glaubhaft. Die Schilderung ist in sich stimmig und nachvollziehbar. Dem Senat liegen auch keine Anhaltspunkte für eine Unrichtigkeit der Behauptung des Klägers vor, er habe mit Ausnahme seines in Kabul wohnenden Onkels nebst Kindern und seiner in Kandahar lebenden Schwester nebst Kindern keine weiteren in Afghanistan ansässigen Verwandten. Der Senat ist davon überzeugt, dass weder der Onkel noch die Schwester des Klägers die für ihn erforderliche engmaschige Betreuung zur Sicherstellung der notwendigen medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung bieten können. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren erläutert, dass sein Onkel - zu dem er seit etwa zweieinhalb bis drei Jahren keinen Kontakt mehr habe - ihn im Fall einer Rückkehr nicht aufnehmen würde, weil er dies bereits telefonisch gegenüber seinem in London lebenden Bruder kundgetan habe. Dies hat der Kläger schlüssig und nachvollziehbar damit begründet, dass der Onkel, der ihm seinerzeit bei der Flucht vor der Stiefmutter geholfen habe, angesichts des Umstands, dass die Brüder der Stiefmutter Kontakt zu gefährlichen Mitgliedern der Taliban in verschiedenen Landesteilen Afghanistans hätten, nicht durch Hilfestellungen für den Kläger seine eigenen Kinder gefährden wolle. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren weiter erklärt, dass der Ehemann seiner Schwester zwischenzeitlich erschossen worden sei und seine Schwester nunmehr allein mit zwei Kindern in Kandahar lebe. Der Senat hält auch diese Angaben des Klägers für glaubhaft. Denn der Kläger hat sichtlich emotional getroffen beschrieben, wie er seiner Schwester angesichts der beschriebenen Situation in Telefonaten Mut zugesprochen habe, ohne dass seine Schilderung in irgendeiner Form erfunden wirkte. Dass Telefonate mit seiner Schwester stattgefunden haben, wird durch die im Hilfeplanvorschlag dokumentierten Angaben des Klägers gegenüber seinem Betreuer bestätigt. Angesichts dieser Situation der Schwester des Klägers liegt es auf der Hand, dass auch diese ihm die erforderliche Betreuung nicht geben kann.
Infolge der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot hinsichtlich der Islamischen Republik Afghanistan besteht, ist die Bezeichnung dieses Staats als Zielstaat in der Abschiebungsandrohung rechtswidrig (vgl. BVerwG, Urteile vom 11.9.2007 - 10 C 8.07 - juris Rn. 25 und - 10 C 17.07 - juris Rn. 20). Aus der Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot hinsichtlich der Islamischen Republik Afghanistan besteht folgt ihre weitere Verpflichtung aus §§ 59 Abs. 3 Satz 2, 60 Abs. 10 Satz 2 AufenthG, in der Abschiebungsandrohung die Islamische Republik Afghanistan als den Staat zu bezeichnen, in den der Kläger nicht abgeschoben werden darf (vgl. BayVGH, Urteil vom 6.3.2007 - 9 B 04.31031 - juris Rn. 44). [...]