OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 22.07.2015 - 9 LA 298/13 - asyl.net: M23435
https://www.asyl.net/rsdb/M23435
Leitsatz:

Ergeben sich aus vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Berichten ausreichende Hinweise auf das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen schweren psychischen Erkrankung des Betroffenen darf ein Beweisantrag, der die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachten zum Gegenstand hat, nicht mit der Begründung abgelehnt werden, es handele sich um einen unsubstantiierten Ausforschungsbeweis.

Schlagwörter: Berufungszulassung, Beweisantrag, Verfahrensfehler, Dublinverfahren, Berufungszulassung, inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis, psychische Erkrankung, Sachverständigengutachten, Beweisantrag, Ausforschungsbeweisantrag,
Normen: AsylVfG § 78 Abs. 3 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

In Verfahren, in denen wie im Verwaltungsprozess der Amtsermittlungsgrundsatz gilt, ist das Gericht zwar nicht verpflichtet, Beweisanträge zu berücksichtigen, wenn es die angebotenen Beweise nach dem sonstigen Ermittlungsergebnis für nicht sachdienlich oder aus Rechtsgründen für unerheblich hält; es darf aber eine derartige Nichtberücksichtigung nicht auf sachfremde Erwägungen stützen (BVerfG, Beschluss vom 12.10.1988 - 1 BvR 818/88 - juris Rn. 36). Das Verwaltungsgericht hat jedenfalls die Ablehnung des als Ziffer 1 formulierten Beweisantrags auf sachfremde Erwägungen gestützt:

Der Kläger hat unter Ziffer 1 seines Beweisantrags beantragt, zum Beweis der Tatsache, dass er schwer psychisch erkrankt ist und aus diesem Grund auf ständige fachärztliche Behandlung angewiesen ist, um Eigen- und Fremdgefährdungen entgegenzuwirken, a) die behandelnde Fachärztin für Neurologie und Nervenheilkunde Dr. med. ... als Zeugin zu vernehmen, und b) ein medizinisches Sachverständigengutachten einzuholen. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag insoweit zum einen mit der Begründung abgelehnt, es handele sich um einen unsubstantiierten Ausforschungsbeweis. Diese Begründung hält der Senat für nicht nachvollziehbar. Aus den im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und Berichten ergeben sich ausreichende Hinweise auf das Vorliegen einer behandlungsbedürftigen schweren psychischen Erkrankung des Klägers. Einer näheren Erläuterung der Folgen einer Nichtbehandlung seitens des Klägers bedurfte es entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht; diese unterliegt der ärztlichen Beurteilung. Die weitere Begründung des Verwaltungsgerichts zur Ablehnung des Beweisantrags, es komme auf die Notwendigkeit einer fachärztlichen Behandlung nicht an, weil der Kläger ausweislich der vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen die erforderliche medikamentöse Behandlung verweigere, ist nach Ansicht des Senats ebenfalls sachfremd. Denn die in Frage stehende Behandlungsbedürftigkeit des Klägers ist nicht auf eine medikamentöse Behandlung beschränkt. Auch wenn der Kläger dem Bericht von Dr. ... vom 17. Juni 2013 zufolge nach der wegen Nebenwirkungen erfolgten Absetzung der medikamentösen Unterstützung vorerst kein erneutes Medikament wünscht, ändert dies an den bislang erforderlich gewordenen stationären Einweisungen nichts. Zudem wurde im Bericht des Kinderhospitals Osnabrück vom 28. Februar 2013 eine ambulante Traumtherapie für "unbedingt angebracht" erklärt. Im Bericht von Dr. … vom 17. Juni 2013 heißt es, dass sich der Verein Exil um eine solche ambulante Traumatherapie "kümmere". Daraus ist zu schließen, dass die Traumatherapie - die eine gewisse Dauer in Anspruch nimmt - im Zeitpunkt der Ablehnung des Beweisantrags des Klägers am 9. September 2013 noch nicht durchgeführt worden war.

Die Fragen des Vorliegens einer behandlungsbedürftigen schweren psychischen Erkrankung und die ärztlicherseits zu konkretisierenden Folgen ihrer Nichtbehandlung sind zumindest für das Vorliegen der Voraussetzungen der nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG und gemäß § 60 Abs. 7 Sätze 1 und 2 AufenthG in verfassungskonformer Auslegung entscheidungserheblich. Denn es spricht Einiges dafür, dass der Kläger eine ärztlicherseits für erforderlich erachtete Behandlung in der Islamischen Republik Afghanistan nicht erhalten kann, so dass sich dort sein Gesundheitszustand alsbald nach einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wesentlich verschlechtern wird. Eine weitere Sachaufklärung zum Gesundheitszustand des Klägers könnte zudem zu der Annahme führen, dass er bei einer Nichtbehandlung in der Islamischen Republik Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein wird, dort sein Existenzminimum zu sichern. [...]