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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 16.11.2015 - 1 C 4.15 - asyl.net: M23491
https://www.asyl.net/rsdb/M23491
Leitsatz:

1. Die Zuständigkeitsbestimmungen für unbegleitete Minderjährige in Art. 6 der Dublin II-VO sind individualschützend, da sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern (auch) dem Grundrechtsschutz dienen.

2. Die rechtswidrige Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit nach § 27a AsylG kann wegen der ungünstigeren Rechtsfolgen nicht in eine (negative) Zweitantragsentscheidung nach § 71a AsylG umgedeutet werden.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, unbegleitete Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, internationale Zuständigkeit, originäre Zuständigkeit, Familienangehörige, Vormund, Asylantrag, konkurrierende Asylanträge, gestaffelte Asylanträge, Zuständigkeitswechsel, Wiederaufnahme, Selbsteintritt, Kindeswohl, Minderjährigenschutz, subjektives Recht, Streitgegenstand, Umdeutung, Zweitantrag, Asylfolgeantrag, Abschiebungsanordnung, Abschiebungsandrohung,
Normen: AsylG § 27a, AsylG § 31, AsylG § 34, AsylG § 34a, AsylG § 71a, AsylG § 77, VO 343/2003 Art. 2, VO 343/2003 Art. 3, VO 343/2003 Art. 5, VO 343/2003 Art. 6, VO 343/2003 Art. 10, VO 343/2003 Art. 13, VO 343/2003 Art. 15, VO 343/2003 Art. 16, VO 343/2003 Art. 17, VO 343/2003 Art. 18, VO 343/2003 Art. 19, VO 343/2003 Art. 20, VO 604/2013 Art. 49 Abs. 2, GR-Charta Art. 24, GR-Chartta Art. 51,
Auszüge:

[...]

1. Das Berufungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass die vom Kläger erhobene Anfechtungsklage nicht nur hinsichtlich der Abschiebungsanordnung, sondern auch hinsichtlich der Entscheidung über die Unzulässigkeit des Asylantrags wegen anderweitiger internationaler Zuständigkeit die allein statthafte Klageart ist (BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 - Rn. 13 ff.).

2. Die Klage ist auch begründet. Das Bundesamt hat in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids - ungeachtet der Formulierung ("Der Asylantrag ist unzulässig") - eine rechtsgestaltende Entscheidung im Sinne des § 31 Abs. 6 AsylG über die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig getroffen (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 - 1 C 26.14 - juris Rn. 12).

Die Voraussetzungen des vom Bundesamt zur Begründung dieser Entscheidung herangezogenen § 27a AsylVfG (inzwischen: AsylG) liegen nicht vor. Danach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass für die Beurteilung der internationalen Zuständigkeit im vorliegenden Fall weiterhin die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. L 50 S. 1) - Dublin II-VO - maßgeblich ist. Das ergibt sich aus der Übergangsregelung in Art. 49 Abs. 2 der am 19. Juli 2013 in Kraft getretenen Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 S. 31) - Dublin III-VO. Danach ist die Dublin III-VO erst auf Anträge zur Erlangung internationalen Schutzes anwendbar, die ab dem 1. Januar 2014 gestellt werden; seit diesem Zeitpunkt gilt sie außerdem - ungeachtet des Zeitpunkts der Antragstellung - für alle Gesuche um Aufnahme oder Wiederaufnahme von Antragstellern. Vorliegend wurden Asylantrag und Wiederaufnahmegesuch vor diesem Stichtag gestellt.

2.1 Nach den in der Dublin II-VO festgelegten Kriterien obliegt Deutschland die Prüfung des klägerischen Asylantrags. Die originäre Zuständigkeit Deutschlands ergibt sich aus Art. 6 Abs. 2 der Dublin II-VO (a). Die Zuständigkeit ist nicht nachträglich auf Belgien übergegangen (b).

a) Nach Art. 3 Abs. 1 der Dublin II-VO wird ein Asylantrag von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Dabei kommen die originären Zuständigkeitskriterien nach Art. 5 Abs. 1 in der im Kapitel III genannten Rangfolge zur Anwendung (normative Hierarchie; vgl. EuGH, Urteil vom 6. Juni 2013 - C-648/11 [ECLI:EU:2013:367], MA u.a. - Rn. 44) und ist gemäß Art. 5 Abs. 2 Dublin II-VO von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt (sog. Versteinerungsklausel; vgl. EuGH, Urteil vom 6. Juni 2013 - C-648/11 - Rn. 45).

Art. 6 der Dublin II-VO bestimmt, dass bei unbegleiteten Minderjährigen der Mitgliedstaat, in dem sich ein Angehöriger rechtmäßig aufhält, für die Prüfung seines Antrags zuständig ist, sofern dies im Interesse des Minderjährigen liegt (Abs. 1). Ist kein Familienangehöriger anwesend, so ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat (Abs. 2). "Unbegleitete Minderjährige" sind nach der Begriffsdefinition in Art. 2 Buchst. h der Dublin II-VO unverheiratete Personen unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines für sie nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in der Obhut eines solchen Erwachsenen befinden; dies schließt Minderjährige ein, die nach ihrer Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ohne Begleitung gelassen werden. "Familienangehörige" sind nach der Begriffsdefinition in Art. 2 Buchst. i der Dublin II-VO die dort aufgeführten, im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten anwesenden Mitglieder der Familie, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat. Hierzu zählt bei unverheirateten minderjährigen Antragstellern auch der Vormund.

Der Kläger wurde nach den Feststellungen des Berufungsgerichtes 1993 geboren; folglich war er auch noch bei Stellung seines weiteren Asylantrags in Deutschland minderjährig. Diese tatrichterliche Feststellung ist revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Soweit die Beklagte eine unzureichende Sachverhaltsaufklärung (§ 86 Abs. 1 VwGO) durch das Berufungsgericht rügt, genügt ihr Vorbringen schon nicht den formellen Anforderungen an die Darlegung dieses Verfahrensfehlers. Denn es fehlen Ausführungen, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen zur Altersbestimmung in Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Aufklärung voraussichtlich getroffen worden wären. Auch wird nicht dargelegt, dass bereits im Verfahren vor dem Berufungsgericht auf eine weitere Sachverhaltsaufklärung hingewirkt worden ist oder dass sich dem Berufungsgericht weitere Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (BVerwG, Urteil vom 19. August 1997 - 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 <n.F.> VwGO Nr. 26 m.w.N.). Ebenso fehlen nähere Darlegungen für einen Verstoß gegen die sich aus dem Überzeugungsgrundsatz (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ergebenden verfahrensmäßigen Verpflichtungen. Die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Alter des Klägers beruhen auch materiellrechtlich nicht auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage. Zwar hat der Kläger in Belgien ein anderes Geburtsdatum angegeben. Das Berufungsgericht hat aber nachvollziehbar dargelegt, warum es dennoch keine Zweifel hat, dass die jetzige Angabe des Klägers, er sei erst 1993 geboren, richtig ist.

Unerheblich ist, dass der Kläger inzwischen volljährig ist. Denn maßgeblich für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates ist nach Art. 5 Abs. 2 der Dublin II-VO die Sachlage im Zeitpunkt der Antragstellung. Diese Zeitpunktfixierung geht aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts der Regelung in § 77 Abs. 1 AsylG vor. Da der Kläger nach den Feststellungen des Berufungsgerichts auch noch bei Stellung seines letzten Asylantrags minderjährig war, kann dahinstehen, wie die weitere Präzisierung in Art. 5 Abs. 2 der Dublin II-VO, wonach von der Situation auszugehen ist, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber "seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt" auszulegen ist. Insbesondere braucht hier nicht entschieden zu werden, ob sie sich nur auf den Fall mehrerer miteinander konkurrierender Asylanträge oder auch - auf den hier zu entscheidenden Fall - einer erneuten Antragstellung nach Abschluss eines oder mehrerer Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat bezieht. Nicht entscheidungserheblich ist auch, dass die belgischen Behörden aufgrund der früheren Angabe des Klägers von dessen Volljährigkeit ausgegangen sind, denn diese Einschätzung entfaltet im vorliegenden Verfahren keine Bindungswirkung.

Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass der Kläger zwar nicht die weiteren Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 der Dublin II-VO erfüllt. Denn sein rechtmäßig in Deutschland lebender Bruder wurde erst Anfang 2011 zum Vormund bestellt. Damit fehlte es im maßgeblichen Zeitpunkt der Antragstellung an einem sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats rechtmäßig aufhaltenden Familienangehörigen im Sinne des Art. 2 Buchst. h der Dublin II-VO. Liegen die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 der Dublin II-VO für eine Zuständigkeit nicht vor, ist nach der subsidiären Regelung in Art. 6 Abs. 2 der Dublin II-VO der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat.

Zur Auslegung dieser Bestimmung hat der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in dem vom Berufungsgericht herangezogenen Urteil vom 6. Juni 2013 - C-648/11-, das Fälle betraf, in denen Minderjährige in mehreren Mitgliedstaaten Asylanträge gestellt hatten, über die noch nicht entschieden war (konkurrierende Asylanträge), festgestellt, dass die Vorschrift unter diesen Umständen dahin auszulegen ist, dass der Mitgliedstaat zuständig ist, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat (Rn. 66). Begründet hat er dies mit dem offenen Wortlaut, einem systematischen Vergleich mit den Regelungen in Art. 5 Abs. 2 und Art. 13 der Dublin II-VO, dem Zweck der Vorschrift, wonach Minderjährige als besonders gefährdete Personen besonders schutzwürdig sind, und dem Erfordernis zur Berücksichtigung des Wohl des Kindes nach Art. 24 Abs. 2 und Art. 51 Abs. 1 der GRC und dem 15. Erwägungsgrund der Dublin II-VO (Rn. 49 ff.). Zugleich hat er - mit Blick auf die hier einschlägige Konstellation gestaffelter Asylanträge - darauf hingewiesen, dass seine Auslegung von Art. 6 Abs. 2 der Dublin II-VO, wonach derjenige Mitgliedstaat zuständig ist, in dem sich der Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat, aber nicht bedeutet, dass der unbegleitete Minderjährige, dessen Asylantrag schon in einem ersten Mitgliedstaat in der Sache zurückgewiesen wurde, anschließend einen anderen Mitgliedstaat zur Prüfung eines Asylantrags zwingen könnte (Rn. 63). Begründet hat er dies mit Art. 25 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 1. Dezember 2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft (ABl. Nr. L 326 S. 13) - Asylverfahrensrichtlinie a.F. Danach hätten die Mitgliedstaaten "zusätzlich zu den Fällen, in denen ein Asylantrag nach Maßgabe der Verordnung Nr. 343/2003 nicht geprüft wird", die Flüchtlingseigenschaft des Antragstellers insbesondere nicht zu prüfen, wenn ein Antrag deshalb als unzulässig betrachtet werde, weil der Asylbewerber nach einer gegen ihn ergangenen rechtskräftigen Entscheidung einen "identischen Antrag" gestellt habe (Rn. 64).

Soweit die Beklagte diesen Ausführungen eine - auf der Zuständigkeitsebene zu berücksichtigende - Einschränkung des Anwendungsbereichs des Art. 6 Abs. 2 der Dublin II-VO jedenfalls bei identischen Anträgen entnimmt, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Bei der Dublin II-VO handelt es sich um unmittelbar anwendbares sekundäres Unionsrecht, das inhaltlich abschließend die Zuständigkeit zur Prüfung eines in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags regelt. Die vom EuGH herangezogene Bestimmung in Art. 25 der Asylverfahrensrichtlinie a.F. ermächtigt den (zuständigen) Mitgliedstaat lediglich, einen Asylantrag auch aus bestimmten anderen Gründen als unzulässig zu betrachten, etwa wenn der Asylbewerber nach einer rechtskräftigen Entscheidung einen identischen Asylantrag gestellt hat (Art. 25 Abs. 2 Buchst. f der RL 2005/85/EG). Beide Normen haben folglich unterschiedliche Regelungsgehalte, die sich ergänzen, aber nicht gegenseitig beeinflussen. Nichts anderes ergibt sich aus dem Hinweis des EuGH.

b) Der Zuständigkeit Deutschlands zur Prüfung des klägerischen Asylantrags steht die Annahme des deutschen Wiederaufnahmeersuchens durch Belgien mit Schreiben vom 16. Februar 2011 nicht entgegen. Hierdurch ist die Zuständigkeit nicht nachträglich auf Belgien übergegangen.

Die Dublin II-VO enthält neben den (originären) Zuständigkeitskriterien im Kapitel III bei den Bestimmungen zur (Wieder-)Aufnahme im Kapitel V Regelungen, die einen Übergang der Zuständigkeit vom ersuchten auf den ersuchenden Mitgliedstaat vorsehen (vgl. Art. 17 Abs. 1 der Dublin II-VO bei nicht fristgerechter Stellung eines Aufnahmeantrags und Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 2 der Dublin II-VO bei nicht fristgerechter Überstellung im Rahmen eines <Wieder->Aufnahmeersuchens). Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass hingegen die bloße Annahme eines (Wieder-)Aufnahmeersuchens durch den ersuchten Mitgliedstaat nach dem Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen nicht zu einem Zuständigkeitswechsel führt, sondern nur zur (Wieder-)Aufnahme verpflichtet (vgl. Art. 18 Abs. 7 und Art. 20 Abs. 1 Buchst. d der Dublin II-VO). Dass im Anwendungsbereich des Art. 6 der Dublin II-VO allein die Annahme eines (Wieder-)Aufnahmeersuchens nicht zu einem Zuständigkeitswechsel führt, ergibt sich auch aus der Entscheidung des EuGH vom 6. Juni 2013 - C-648/11 -, in der dieser sich eingehend mit der Auslegung des Art. 6 der Dublin II-VO auseinandersetzt, obwohl in allen drei ihm vorgelegten Fällen sich die Staaten, in denen die minderjährigen Kläger bereits zuvor einen Asylantrag gestellt hatten, ausdrücklich zur Wiederaufnahme bereit erklärt hatten. Wäre allein hierdurch die Zuständigkeit auf die ersuchten Mitgliedstaaten übergegangen, hätten sich weitere Ausführungen zur (originären) Zuständigkeit des Aufenthaltsstaats nach Art. 6 der Dublin II-VO erübrigt.

Soweit das Berufungsgericht weiter feststellt, dass die Zustimmung Belgiens auch keine (zuständigkeitsbegründende) Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 3 Abs. 2 der Dublin II-VO beinhaltet, ist auch dies revisionsgerichtlich nicht zu beanstanden. Die Dublin II-VO trennt zwischen den (originären) Zuständigkeitskriterien im Kapitel III, dem (fakultativen) Selbsteintrittsrecht der Mitgliedstaaten nach Art. 3 Abs. 2 und Art. 15 Abs. 2 der Dublin II-VO und dem (Wieder-)Aufnahmeverfahren nach Kapitel V. Mit der ausdrücklich auf Art. 16 Abs. 1 Buchst. e der Dublin II-VO gestützten Annahme des Wiederaufnahmeersuchens hat Belgien lediglich seine Bereitschaft erklärt, den Kläger wieder aufzunehmen. Eine Entscheidung, den Asylantrag des Klägers - unabhängig von den in der Dublin II-VO niedergelegten Zuständigkeitskriterien - im Wege des Selbsteintritts zu prüfen, ist dem - ungeachtet der Frage, ob ein solcher Selbsteintritt überhaupt zulässig wäre - nicht zu entnehmen. Es liegen auch keine Anhaltspunkte für eine konkludente Ausübung des Selbsteintrittsrechts vor. Hierfür genügen reine Verfahrenshandlungen regelmäßig nicht.

2.2 Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass sein Asylantrag in Deutschland geprüft wird. Der Unionsgesetzgeber hat zur zügigen Bearbeitung von Asylanträgen in der Dublin II-VO organisatorische Vorschriften für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats festgelegt. Diese sind individualschützend, wenn sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern (auch) dem Grundrechtsschutz dienen. Ist dies der Fall, hat der Asylsuchende ein subjektives Recht auf Prüfung seines Asylantrags durch den danach zuständigen Mitgliedstaat und kann eine hiermit nicht im Einklang stehende Entscheidung des Bundesamts erfolgreich angreifen.

In diesem Sinne sind die Bestimmungen zur Zuständigkeit für Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen - im Gegensatz etwa zur Fristenregelung für die Stellung eines Aufnahmegesuchs nach Art. 17 Abs. 1 der Dublin II-VO (vgl. hierzu BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 - Rn. 17 ff.) - individualschützend und vermitteln dem Betroffenen folglich ein subjektives Recht. Der EuGH hat in seinem Urteil vom 6. Juni 2013 (C-648/11), in dem es um die Zuständigkeit für Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger ging, die bereits in einem anderen - zur Wiederaufnahme bereiten - Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hatten, die einschlägige Zuständigkeitsregelung in Art. 6 Abs. 2 der Dublin II-VO im Lichte des Art. 24 Abs. 2 der GRC ausgelegt, wonach bei allen Kinder betreffenden Maßnahmen öffentlicher Stellen oder privater Einrichtungen das Wohl des Kindes eine vorrangige Erwägung sein muss (Rn. 57). Dem ist zu entnehmen, dass die Zuständigkeitsbestimmungen für unbegleitete Minderjährige in Art. 6 der Dublin II-VO (auch) dem Grundrechtsschutz des Betroffenen dienen.

2.3 Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids kann entgegen der Auffassung der Beklagten nicht als Entscheidung nach § 71a AsylG, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen, aufrechterhalten bleiben. Stellt ein Ausländer nach erfolglosem Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat (§ 26a), für den Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft über die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren gelten oder mit dem die Bundesrepublik Deutschland darüber einen völkerrechtlichen Vertrag geschlossen hat, im Bundesgebiet einen Asylantrag (Zweitantrag), ist nach § 71a Abs. 1 AsylG ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen; die Prüfung obliegt dem Bundesamt.

Dabei kann dahinstehen, ob das Bundesamt hiernach die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ablehnen müsste. Denn ist die Bundesrepublik Deutschland nach den Dublin-Bestimmungen für die Prüfung des Asylantrags zuständig, unterliegt die vom Bundesamt zu Unrecht auf § 27a AsylG gestützte Ablehnung des Asylantrags als unzulässig ohne förmliche Änderung durch das Bundesamt und ohne Mitwirkung des Klägers im laufenden Gerichtsverfahren nur dann nicht der gerichtlichen Aufhebung, wenn sie sich entweder bei gleichbleibendem Streitgegenstand aus anderen Gründen im Ergebnis als rechtmäßig erweist (a) oder wenn sie im Wege der Umdeutung nach § 47 VwVfG durch eine andere - rechtmäßige - Regelung ersetzt werden kann (b). Beide Voraussetzungen liegen hier nicht vor.

a) Nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO unterliegt ein Verwaltungsakt der gerichtlichen Aufhebung, soweit er rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Darin kommt die Verpflichtung der Verwaltungsgerichte zum Ausdruck zu prüfen, ob ein angefochtener Verwaltungsakt mit dem objektiven Recht in Einklang steht und, falls nicht, ob er den Kläger in seinen Rechten verletzt. Bei dieser Prüfung haben die Verwaltungsgerichte alle einschlägigen Rechtsvorschriften und - nach Maßgabe der Sachaufklärungspflicht gemäß § 86 Abs. 1 VwGO - alle rechtserheblichen Tatsachen zu berücksichtigen, gleichgültig, ob die Normen und Tatsachen von der erlassenden Behörde zur Begründung des Verwaltungsaktes angeführt worden sind oder nicht. Dies gilt aber nur, wenn und soweit der angefochtene Verwaltungsakt hierdurch nicht in seinem Wesen verändert wird (BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1982 - 8 C 12.81 - BVerwGE 64, 356 <357 f.>). Diese Grenze wird überschritten, wenn - wie hier - durch einen Austausch der Rechtsgrundlage prozessual der Streitgegenstand verändert würde.

Zwar findet sowohl bei § 27a AsylG als auch bei § 71a AsylG keine inhaltliche Prüfung des Asylantrags statt. Das Gesetz knüpft an beide Entscheidungen aber unterschiedliche Rechtsfolgen, so dass prozessual von unterschiedlichen Streitgegenständen auszugehen ist. § 27a AsylG betrifft die Behandlung eines Asylantrags im Falle der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Eine auf diese Rechtsgrundlage gestützte Entscheidung hat zur Folge, dass der Antragsteller in den zur Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat überstellt und ihm zu diesem Zweck unter den Voraussetzungen des § 34a AsylG die Abschiebung in diesen Staat angedroht wird. Im Rahmen der Entscheidung nach § 71 a AsylG findet hingegen, ausgehend von einer Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland, eine Prüfung statt, ob das Asylverfahren auf den Zweitantrag wiederaufzugreifen ist und ob, falls Gründe für ein Wiederaufgreifen gegeben sind, ein Anspruch auf Asylanerkennung besteht. Lehnt das Bundesamt auf dieser Rechtsgrundlage die Durchführung eines (weiteren) Asylverfahrens ab, ist nur noch über das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG zu entscheiden (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 71 a AsylVfG, Stand 10. August 2010, Rn. 27) und der Betroffene kann nach Erlass einer Abschiebungsandrohung - vorbehaltlich des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbotes - in jeden Staat abgeschoben werden, in den er einreisen darf oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist (vgl. § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 2 AufenthG).

b) Die auf § 27a AsylG gestützte Unzulässigkeitsentscheidung kann auch nicht nach § 47 VwVfG in eine Entscheidung nach § 71a AsylG umgedeutet werden. Bei der Umdeutung (Konversion) wird die im Verwaltungsakt getroffene Regelung nicht lediglich auf eine andere Rechtsgrundlage gestützt, sondern durch eine andere (rechtmäßige) Regelung ersetzt. Hierzu sind - bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 47 VwVfG - nicht nur die Behörden, sondern auch die Verwaltungsgerichte ermächtigt (vgl. u.a. BVerwG, Urteile vom 23. November 1999 - 9 C 16.99 - BVerwGE 110, 111 <114> und vom 26. Juli 2006 - 6 C 20.05 - BVerwGE 126, 254 Rn. 101 m.w.N.). Eine Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes ist damit nicht verbunden (BVerwG, Beschluss vom 9. April 2009 - 3 B 116.08 - juris Rn. 4). Eine Umdeutung ist auch noch im Revisionsverfahren möglich, sofern die das Revisionsgericht bindenden tatrichterlichen Feststellungen ausreichen, den Beteiligten rechtliches Gehör gewährt worden ist und sie in ihrer Rechtsverteidigung nicht beeinträchtigt sind (BVerwG, Urteile vom 14. Februar 2007 - 6 C 28.05 - Buchholz 442.066 § 150 TKG Nr. 3 und vom 29. Oktober 2008 - 6 C 38.07 - Buchholz 442.066 § 10 TKG Nr. 2).

Nach § 47 Abs. 1 VwVfG kann ein fehlerhafter und damit rechtswidriger Verwaltungsakt in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Dies gilt nach § 47 Abs. 2 VwVfG nicht, wenn der Verwaltungsakt, in den der fehlerhafte Verwaltungsakt umzudeuten wäre, der erkennbaren Absicht der erlassenden Behörde widerspräche oder seine Rechtsfolgen für den Betroffenen ungünstiger wären als die des fehlerhaften Verwaltungsaktes (Satz 1). Eine Umdeutung ist ferner unzulässig, wenn der fehlerhafte Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden dürfte (Satz 3). Eine Entscheidung, die nur als gesetzlich gebundene Entscheidung ergehen kann, kann nach § 47 Abs. 3 VwVfG nicht in eine Ermessensentscheidung umgedeutet werden. Nach § 47 Abs. 4 VwVfG ist § 28 VwVfG entsprechend anzuwenden.

Ob nach § 71a AsylG die Voraussetzungen für eine die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ablehnende Entscheidung vorliegen, nachdem der Kläger nach seinen Angaben zwar zwei erfolglose Asylverfahren in Belgien durchlaufen und sich bei Stellung seines (Zweit-)Antrags im Bundesgebiet lediglich allgemein auf die Verhältnisse in seinem Heimatland berufen hat, ausweislich der Akten aber während des gerichtlichen Verfahrens zum christlichen Glauben konvertiert ist, bedarf auch in diesem Zusammenhang keiner Entscheidung. Denn eine Umdeutung scheitert schon daran, dass die Rechtsfolgen einer Entscheidung nach § 71a AsylG für den Kläger ungünstiger wären. Dabei sind nicht nur die unmittelbaren, sondern auch die mittelbaren Rechtsfolgen der Entscheidung in den Blick zu nehmen. Folglich ist zu berücksichtigen, dass eine Entscheidung nach § 27a AsylVfG nur zur Überstellung des Asylsuchenden in einen anderen - zur Prüfung seines Asylantrags zuständigen - "sicheren" Dublin-Staat führt. Eine die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ablehnende Entscheidung nach § 71a AsylG hätte hingegen zur Folge, dass der Asylantrag auch von keinem anderen Staat weiter geprüft würde und der Betroffene - nach Erlass einer entsprechenden Abschiebungsandrohung und vorbehaltlich des Bestehens eines nationalen Abschiebungsverbotes - in jeden zu seiner Aufnahme bereiten Staat einschließlich seines Herkunftslands abgeschoben werden könnte. Die Regelung in Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids kann schließlich auch nicht in eine andere (rechtmäßige) Entscheidung umgedeutet werden. [...]